
Koalitionsvertrag Sind die Migrationspläne umsetzbar?
Migration war das bestimmende Thema im Bundestagswahlkampf - und lange ein Streitpunkt zwischen Union und SPD. Was jetzt geplant ist und wo das Recht Grenzen setzt.
Am ersten Tag seiner Amtszeit als Bundeskanzler, so hatte es Friedrich Merz im Bundestagswahlkampf angekündigt, werde er von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen und das Bundesinnenministerium anweisen, die deutschen Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und auch Asylsuchende zurückzuweisen.
Nach der Wahl wurde wohl auch Merz klar, dass vor dem Tag seiner ersten Amtszeit die Koalitionsverhandlungen anstehen. Und so wurde in den vergangenen Wochen auch beim Thema Migration gerungen um Veränderungen und konkrete Formulierungen. Schon in der Einleitung zum Unterpunkt Migration und Integration finden sich im Koalitionsvertrag nun wichtige SPD-Sätze: "Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet. Wir wollen Integration ermöglichen", heißt es da zum Beispiel. Doch auch die Union hat ihre Punkte untergebracht: "Wir werden Migration ordnen und steuern und die irreguläre Migration wirksam zurückdrängen."
Kontrollen an Grenzen sollen fortgesetzt werden
Konkret will die künftige Koalition zum Beispiel die Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen fortsetzen, bis es einen funktionierenden Außengrenzschutz der EU gibt.
Nichts wirklich Neues also, rechtlich aber durchaus problematisch. Denn Deutschland hat vor vielen Jahren den Schengener Grenzkodex unterzeichnet. Danach gilt die klare Grundregel: Es gibt keine dauerhaften, zeitlich unbegrenzten Grenzkontrollen zwischen den Staaten im Schengen-Raum. Ausnahmen von dem Verbot lässt der Schengener Grenzkodex nur zu, wenn die Kontrollen in besonderen Gefahrensituationen zwingend erforderlich sind. Und auch dann nur für begrenzte Zeiträume. Dem widersprechen schon die jetzigen Grenzkontrollen.
So hat ganz aktuell der Bayerische Verwaltungsgerichtshof am 17. März 2025 entschieden, dass die Kontrolle eines österreichischen Staatsbürgers 2022 rechtswidrig war, weil die Grenzkontrollen nach dem Schengener Grenzkodex nicht gerechtfertigt waren. Die jetzt angekündigte Fortsetzung verschärft das Problem.
Auch Asylsuchende sollen zurückgewiesen werden
Der entscheidende Satz zum wohl umstrittensten Migrationsthema im Koalitionsvertrag lautet: "Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen." Genau so stand er auch schon im Sondierungspapier von Union und SPD, doch schon kurz nach deren Veröffentlichung wurde öffentlich zwischen den künftigen Koalitionären gestritten, was dieses "in Abstimmung" eigentlich bedeutet.
Zudem dauerte es nicht lange, bis das Innenministerium in Wien mitteilte, man werde solche zurückgewiesenen Personen in Österreich nicht annehmen. Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags antwortete Merz auf eine Frage dazu: "Abstimmung bedeutet Abstimmung mit den europäischen Partnern", und er fügte hinzu: "Wir sind in engem Dialog und werden das Problem gemeinsam lösen."
Zurückweisungen sind rechtlich riskant
Rechtlich ist die Zurückweisung von Asylsuchenden hoch riskant, da sind sich die meisten Experten einig. Und das selbst dann, wenn die Nachbarn zustimmen würden. Zwar steht in Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes (GG), dass Flüchtlinge, die aus einem sichereren Drittstaat nach Deutschland kommen, kein Recht auf Asyl haben. Aber: Artikel 16a GG endet nicht mit Absatz 2. Er endet mit Absatz 5, und darin steht sinngemäß: EU-Recht und anderes Völkerrecht gehen den deutschen Regeln vor.
Entscheidend bei der Frage, ob Zurückweisungen zulässig sind, bleibt deshalb das EU-Recht. In erster Linie die sogenannte Dublin-III-Verordnung. Auch nach dieser EU-Verordnung ist Deutschland in den meisten Fällen nicht zuständig für die Asylverfahren, sondern das Land, in dem Flüchtende zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Aber: Deutschland muss nach den Regeln von Dublin-III zunächst einmal prüfen, welches EU-Land zuständig ist. Dorthin darf der Flüchtling dann überstellt, also quasi "abgeschoben" werden.
Direkte Zurückweisungen an den deutschen Grenzen lässt das EU-Recht für Asylsuchende hingegen nicht zu. Denn auch das Nachbarland ist in den meisten Fällen nicht zuständig für das Asylverfahren.
Umstritten ist die Frage, ob Deutschland eine Notlage erklären könnte, um dieses EU-Recht nicht mehr anwenden zu müssen. Ob in der aktuellen Situation so eine Notlage vorliegt, ist nicht abschließend geklärt. Zweifeln könnte man mit Blick auf die aktuell stark zurückgegangene Zahl der Asylanträge in Deutschland. Zudem sind alle Länder der EU, die bisher versucht haben, sich auf die Notlage zu stützen, damit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gescheitert.
Sichere Herkunftsstaaten sollen ausgeweitet werden
Ein weiterer Punkt im Koalitionsvertrag: Die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten. Für Menschen aus solchen Ländern gilt ein verkürztes Asylverfahren. Denn es gilt der Grundsatz: In sicheren Herkunftsstaaten droht grundsätzlich keine Verfolgung, ein Asylgrund liegt also meistens nicht vor. Asylbewerber, die aus diesen Ländern kommen, müssen dann selbst nachweisen, dass es in ihrem konkreten Einzelfall anders ist. Für die Behörden macht es das deutlich leichter, Anträge abzulehnen.
Auf der Liste stehen bislang alle EU-Mitgliedsstaaten und zehn weitere Staaten, darunter Georgien, Ghana und der Kosovo. Die Koalition möchte die Liste verlängern. Zuerst sollen Algerien, Indien, Marokko und Tunesien dazukommen. Bislang muss der Bundestag für jede Erweiterung das Asylgesetz ändern. Union und SPD haben nun vereinbart, dass sie das künftig mit einer Rechtsverordnung machen möchten. Dann könnte die Regierung die Liste selbst erweitern, ohne dass der Bundestag ein aufwendiges Gesetzgebungsverfahren durchführen muss.
EuGH könnte Strich durch die Rechnung machen
Momentan beschäftigt sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit den Anforderungen an sichere Herkunftsstaaten. In einem Fall aus Italien prüft das Gericht etwa, ob ein Staat "sicher" sein kann, wenn dort zwar dem Großteil der Bevölkerung keine Gefahr droht, Minderheiten aber schon.
In den sogenannten Schlussanträgen gab es dazu ganz aktuell eine wichtige, wenn auch nicht bindende Einschätzung. Nach dieser kann ein Herkunftsstaat zwar "sicher" sein, obwohl Minderheiten bedroht sind. Das gehe aber nur in demokratischen Regimen, die der Bevölkerung einen nachhaltigen Schutz gewähren. Das dürfte in Tunesien, Marokko und Algerien, wo zum Beispiel LGBTQI-Handlungen als verboten gelten, nicht zutreffen. Diese Länder sind keine vollwertigen Demokratien. Der EuGH wird in einigen Monaten urteilen und könnte dann die Koalitionspläne vor Probleme stellen.
Turbo-Staatsbürgerschaft soll es nicht mehr geben
Rechtlich unproblematisch ist die Einigung der künftigen Koalitionäre, die sogenannte Turbo-Einbürgerung abzuschaffen. Durch das Ampel-Projekt können besonders gut integrierte Menschen nach drei Jahren einen deutschen Pass bekommen. Das wollen Union und SPD nun zurückdrehen. Eine Einbürgerung soll erst nach frühestens fünf Jahren möglich sein. Auch der Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigten soll zunächst für zwei Jahre ausgesetzt werden.
Nicht in den Koalitionsvertrag hat es ein Vorhaben der Union geschafft, das noch im Sondierungspapier stand und mit dem die Union im Wahlkampf für Aufsehen gesorgt hatte. Es sollte geprüft werden, ob beispielsweise Terrorunterstützern mit Doppel-Staatsangehörigkeit der deutsche Pass entzogen werden könnte. Verfassungsrechtler hatten davor gewarnt, die SPD hat sich nun offenbar durchgesetzt.
Straffällige sollen in der Regel ausgewiesen werden
"Bei schweren Straftaten führt die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu einer Regelausweisung", verspricht der Koalitionsvertrag. Das wird bei den meisten Straftaten, die der Koalitionsvertrag nennt, keine wirkliche Veränderung bringen. Denn das Aufenthaltsgesetz regelt auch heute schon, dass das Ausweisungsinteresse bei bestimmten Verurteilungen besonders schwer wiegt. Neu ist, dass dies auch bei Verurteilungen wegen Volksverhetzung und antisemitisch motivierten Straftaten gelten soll.
Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien
Wichtig zu wissen: Mit einer Ausweisung ist die betroffene Person noch nicht außer Landes. Oft scheitern die dann erforderlichen Abschiebungen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen. Doch auch da wollen Union und SPD einiges ändern. So soll vor allem die Kooperationsbereitschaft der Herkunftsländer gesteigert werden, die Menschen zurückzunehmen.
Außerdem soll der Bund die Zuständigkeit bekommen, die Abschiebungen beziehungsweise Überstellungen in das für das Asylverfahren zuständige Land der EU durchzuführen. Bisher machen das die Bundesländer. Bundesausreisezentren sollen geprüft werden, um die Ausreisen zu beschleunigen.
Und dann folgt noch ein klares Versprechen: "Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben - beginnend mit Straftätern und Gefährdern". Im August 2024 hatte auch die Ampelkoalition einen Abschiebeflug mit Straftätern nach Afghanistan organisiert. Obwohl dies aus tatsächlichen Gründen besonders schwer war, weil dort die islamistische Taliban regiert und man mit ihnen direkt nicht verhandeln wollte. Ob sich das nun ändert oder wie man zu mehr Abschiebungen kommen will, dazu schweigt der Koalitionsvertrag.
Nach Syrien könnten Abschiebungen nach dem Sturz des Assad-Regimes tatsächlich wieder möglich werden. Allerdings gilt auch künftig: Selbst Straftätern darf in ihrem Heimatland nicht Folter oder der Tod drohen. Andernfalls dürfte Deutschland nicht abschieben. Das ist eine absolute Grenze, die immer beachtet werden muss. Das muss also in jedem Einzelfall geprüft werden und das werden auch Gerichte überwachen.
Rechtsschutz soll eingeschränkt werden
Doch auch an dem Rechtsschutz für Asylsuchende will die künftige Koalition schrauben. So will sie zum Beispiel "die Rechtsmittelzüge in den Blick nehmen", heißt es im Koalitionsvertrag. Gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte könnte es also weniger Rechtsmittel wie Berufungen oder Beschwerden geben. In bestimmten Asylverfahren, etwa wenn den Asylsuchenden Abschiebehaft droht, sollen diese keinen Rechtsanwalt mehr vom Staat bezahlt bekommen.
Und: Künftig soll in Asylverfahren der sogenannte Beibringungsgrundsatz gelten. Heißt: Die Gerichte würden den Sachverhalt nicht mehr - wie bisher - selbst ermitteln. Relevant wäre nur noch, was der Asylsuchende bei Gericht selbst vorträgt. Das stößt ebenfalls auf rechtliche Bedenken.
"Ein faires Verfahren ist so für die Betroffenen nicht garantiert", meldet sich die Organisation Pro Asyl zu Wort. Der Juraprofessor und Asylrechtsexperte Constantin Hruschka ist ebenfalls skeptisch. Er hält dadurch sowohl verfassungsrechtliche Vorgaben als auch das Europarecht für verletzt. "Ich kann verlangen, dass ein Betroffener mitwirkt. Aber das löst dann eine Prüfungspflicht für das Gericht aus. Das muss alles berücksichtigen, was bekannt ist", so Hruschka gegenüber der ARD-Rechtsredaktion.
Innenministerium geht an die CSU
Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD auch auf die Verteilung der Ministerien geeinigt. Das Innenministerium soll an die CSU gehen. Friedrich Merz wird also sicher eine Ministerin oder einen Minister bekommen, der die Unionslinie vorantreiben wird. Die im Wahlkampf angekündigte Anweisung nach der Richtlinienkompetenz - die man in einer funktionierenden Koalition ohnehin nicht braucht - kann sich der künftige Bundeskanzler also auch deshalb sparen.
Die Koalition will mit den vorgestellten Plänen Fakten schaffen und abschrecken. Doch in vielen Punkten besteht die konkrete Gefahr, dass die Gerichte diese am Ende wieder stoppen oder einschränken werden.