
Selenskyj bei maischberger "Niemand ist an einem Afghanistan 2.0 interessiert"
Der ukrainische Präsident Selenskyj warnt davor, dass es bei einem Ende des Ukraine-Kriegs zu einer Lage wie 2021 in Afghanistan kommen könnte. In der ARD-Sendung maischberger sagte er zudem, dass Absprachen ohne die Ukraine zwecklos seien.
Vor ersten Gesprächen zwischen Vertretern der USA und Russlands über Wege zu einem Friedensabkommen für die Ukraine hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Westen davor gewarnt, Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen.
In der ARD-Talksendung maischberger erinnerte Selenskyj an den überstürzten Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan im Jahr 2021 und stellte sich damit gegen eine Verhandlungstaktik, die entscheidende Forderungen schon vor Beginn von Gesprächen aufgibt.
Mit Blick auf Erklärungen aus der US-Regierung, wonach die Ukraine nicht Mitglied der NATO werde, sagte Selenskyj: "Man kann das nicht einfach vom Tisch nehmen. So funktioniert das nicht. Ich glaube, dass niemand an einem Afghanistan 2.0 interessiert ist."
Das Abkommen zum Rückzug westlicher Truppen aus Afghanistan war noch in der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump ausgehandelt worden und unter seinem Nachfolger Joe Biden 2021 in sehr kurzer Zeit umgesetzt worden. Dies hatte zu einem chaotischen Rückzug aus dem Land geführt, während die Taliban nach jahrzehntelangem Kampf in kurzer Zeit die Hauptstadt Kabul einnahmen und damit die Macht im Land an sich rissen.
Damals, so Selenskyj, habe "fehlender Respekt vor Menschenleben" zu der "Tragödie" geführt. "Es gibt also Erfahrungen damit, was passiert, wenn jemand etwas undurchdacht beendet und sich sehr schnell zurückzieht."
Die Rolle der USA
Selenskyj machte sich zugleich erneut für eine starke Rolle der USA in der Ukraine nach einem Friedensabkommen stark. Zwar sei die Ukraine heute ein anderes Land als zu Beginn des russischen Angriffskrieges und sei zum Beispiel "sehr erfahren mit einer eigenen Rüstungsproduktion". Aber einen "Sieg der Ukraine wird es ohne Unterstützung der USA definitiv nicht geben".
Gespräche über einen Waffenstillstand müssten auch Sicherheitsgarantien umfassen. Während Trump den Ansatz verfolge, dass ein europäisches Truppenkontingent der Ukraine helfen solle, habe er Trump gesagt, "dass die Amerikaner dabei sein sollten". Es gehe hier nicht nur um Truppenstärke: "Es ist eine wichtige Machtdemonstration gegenüber Putin, dass alle Verbündeten gemeinsam die Ukraine schützen."
Selenskyj zeigte sich bewusst darüber, dass Trump "wirklich enge Beziehungen zu Putin" habe. Er gab aber zu bedenken, dass es seiner Ansicht nach "nicht wirklich gute Beziehungen zwischen den Staatschefs der USA und Russlands geben kann - weil das unterschiedliche Pole sind, völlig unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Wertegemeinschaften."
Er selbst habe viele "positive Gespräche" mit Trump gehabt. Aber nun komme es auf das Ergebnis an.
Nicht über den Kopf der Ukraine hinweg
Absprachen, die ohne die Ukraine getroffen werden, lehnte Selenskyj entschieden ab - davon könne "keine Rede sein". Das sei "zwecklos, weil der Krieg bei uns ist, leider auf unserem Boden":
Alles, was Russland und die USA vereinbaren können - wenn sie überhaupt etwas vereinbaren wollen - betrifft ihre bilateralen Beziehungen. Sie können ganz sicher nicht über unsere Menschen und unsere Leben verhandeln. Über ein Ende des Krieges ohne uns. Wir sind ein eigenständiger Staat.
Kein Verzicht auf Territorium
Auch gegen eine weitere Position, die die USA vor möglichen Gesprächen mit Russland eingenommen hatten, stellte sich Selenskyj bei maischberger. Er unterstrich, dass die Ukraine nicht bereit sei, dauerhaft auf Teile ihres Staatsgebiets zu verzichten: "Juristisch werden wir unsere Gebiete nicht aufgeben."
Er zeigte sich zugleich zuversichtlich, dass die völkerrechtswidrig von Russland eroberten und annektierten Teile seines Landes eines Tages wieder Teil des Staatsgebiets sein werden: "Natürlich werden wir alles wieder zurückbringen. Die Achtung des internationalen Rechts wird zurückkehren. Wenn nicht heute, dann morgen."
An die Adresse des neuen US-Verteidigungsministers Pete Hegseth, der genau das infrage gestellt hatte, sagte Selenskyj: "Der Verteidigungsminister sollte sich tiefer in die Details einarbeiten. Ich denke, dafür braucht er Zeit."
Es sei aber ein Problem, "dass die USA heute Dinge sagen, die für Putin sehr angenehm sind. Ich denke, darin liegt der Kern. Weil sie ihm gefallen wollen. Wissen Sie wofür? Um einander zu treffen und einen schnellen Erfolg zu haben." Ein Waffenstillstand sei aber "kein Erfolg".
Kritik an Europa
Zugleich kritisierte Selenskyj bei maischberger militärische Defizite in Europa. "Europa ist heute schwach", stellte er fest. Es habe in den vergangenen drei Jahren zwar einiges besser gemacht, aber "was die Truppenstärke angeht, die Anzahl der Kampftruppen, der Flotte, was die Luftwaffe angeht, die Drohnen", sei Europa schwach.
Zugleich unterstrich er die Verbindung seines Landes mit den europäischen Staaten: "Ich glaube, dass die Ukraine mit Europa die gleichen Werte teilt. Wir sind Europa. Wir sind genau wie ihr."
Plant Russland einen Angriff via Belarus?
Auch deshalb warnte er vor einem möglichen Angriff durch russische Truppen über Belarus. Russland sei dabei, 15 neue Divisionen aufzubauen. Es sei zu vermuten, dass sie "einen Plan für den Sommer haben", der sich aber noch bis zum Herbst verzögern könne.
Dann verfüge Russland über 150.000 zusätzliche Soldaten. Der Plan könnte sein: "Diese 150.000 kommen zu einer jährlichen gemeinsamen Übung von Russland und Belarus auf dem Gebiet von Belarus zusammen." So sei es auch vor der vollumfänglichen Invasion der Ukraine im Februar 2022 gewesen.
Diesen Weg könnte Russland wieder gehen - oder eine andere Variante wählen:
Sie könnten versuchen, einen einfacheren - wenn auch riskanteren - Weg zu gehen, und den ersten NATO-Staat anzugreifen. Ein NATO-Land, das nicht so groß ist und über ein Truppenkontingent verfügt, das nicht ausreichend ist. Das könnte Litauen sein - oder Polen. Dieses Risiko besteht. Unsere Analyse zeigt, dass Russland darüber nachdenkt, NATO-Staaten anzugreifen.

Seit 2022 kämpfen Wolodymyr Selenskyj und seine Landsleute gegen die russischen Aggressoren - bei Sandra Maischberger spricht er über die Aussichten für sein Land und darüber, was der Krieg für ihn persönlich bedeutet.
Die persönliche Zukunft
Zu seiner persönlichen Rolle in möglichen Verhandlungen und als Präsident der Ukraine erklärte Selenskyj, Russland wisse, dass es mit ihm in Verhandlungen "nicht einfach" sei. Deshalb sei es "verständlich, dass Russlands mich loswerden will".
Wenn die Ukraine aber in die EU und in die NATO aufgenommen werde, russische Truppen sich zurückzögen und sein Land Sicherheitsgarantien habe, werde er nicht mehr gebraucht. Dann habe er alles erreicht. "Aber solange wir das nicht haben, werde ich mein Land verteidigen."
Das gesamte Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj sehen Sie in der Sendung maischberger - am Dienstag um 23.05 Uhr im Ersten und schon jetzt in der ARD-Mediathek.