
Ökonom im Gespräch Wie weit steigen die Sozialabgaben noch?
Schon heute fließen 42 Prozent des Einkommens an die Sozialkassen - wie lange geht das noch gut? Wo die größten Baustellen liegen und wie sie behoben werden können, erklärt der Ökonom Ziebarth vom ZEW.
ARD-Finanzredaktion: Herr Ziebarth, mit welchem Ziel wurden die Sozialversicherungen in Deutschland gegründet?
Nicolas Ziebarth: Deutschland war das allererste Land weltweit, das die Sozialversicherung eingeführt hat - in den 1880er Jahren unter Otto von Bismarck. Da wurden die ersten drei Stränge der Sozialversicherung eingeführt: die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung und der Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung.
Das geschah damals auch aus politstrategischen Gründen, weil Bismarck die sozialistischen Bewegungen unterwandern beziehungsweise ihnen die Argumentation nehmen wollte. Damals gab es sehr schlimme Zustände in den Fabriken. Es ging in erster Linie darum, für eine soziale gesetzliche Absicherung der Arbeiter zu sorgen. Dann kam 1927 noch die Arbeitslosenversicherung hinzu und in den 90er Jahren die gesetzliche Pflegeversicherung.
ARD-Finanzredaktion: Was haben die fünf Säulen der Sozialversicherungen in Deutschland gemeinsam?
Ziebarth: Die Sozialversicherungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein umlagefinanziertes System darstellen. Es gilt immer, dass die arbeitende Bevölkerung Beiträge in Abhängigkeit von ihren Einkommen zahlt. Und die werden auf dem Papier zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geteilt.
Und dann gibt es auf der anderen Seite Leistungsempfänger oder -bezieher, beispielsweise die derzeitigen Rentner oder Menschen, die Langzeitpflege benötigen. Die Sozialversicherungen folgen dem umlagebasierten Solidarsystem. Die Prämien sind nicht wie in der Privatversicherung Kopfprämien und zum Beispiel abhängig vom Gesundheitszustand, sondern bis zu einer sogenannten Bemessungsobergrenze vom Einkommen.

Pflegeversicherung eine "Teilkaskoversicherung"
ARD-Finanzredaktion: Wie unterscheiden sich die Sozialversicherungen untereinander?
Ziebarth: Die Krankenversicherung sichert unsere Kosten im Krankheitsfall ab, bei Ärzten zum Beispiel. Dann können wir uns über die Pflegeversicherung unterhalten, hier ist Motivation zur Einführung offensichtlich gewesen, dass wir eben eine alternde Bevölkerung sind.
Wir werden zum Glück immer älter, aber dadurch auch steigt der Bedarf an Menschen, die Langzeitpflege benötigen. Und da hat man in den 1990er Jahren zum Glück die Notwendigkeit erkannt, die Pflegeversicherung als letzten Strang der Sozialversicherungen einzuführen, um die hohen Kosten für Pflege abzusichern.
ARD-Finanzredaktion: Warum sind die Zuzahlungen in der Pflegeversicherung so hoch?
Ziebarth: Bei der gesetzlichen Pflegeversicherung handelt es sich um eine Teilkaskoversicherung. Die Pflegeversicherung ist die einzige Versicherung, in der die Eigenanteile immer noch sehr hoch sind. Das unterscheidet die Pflegeversicherung von den anderen Versicherungen. Die jetzigen Pflegeheimbewohner zahlen durchaus zweieinhalb bis dreieinhalbtausend Euro aus eigener Tasche im Monat.
ARD-Finanzredaktion: Auch die Rente lässt sich schon nicht mehr durch das Umlageverfahren decken.
Ziebarth: Durch den demografischen Wandel haben wir das Problem, dass die Boomer-Generation jetzt in Rente geht. Weil wir sehr viele Rentenbezieher haben und die arbeitende Bevölkerung im Verhältnis relativ klein geworden ist, brauchen wir massive Steuerzuschüsse in die Rentenversicherungen. Die liegen ungefähr bei 130 Milliarden Euro pro Jahr.

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Folge 1: Sozialversicherungen - Grundlagen und Grenzen (9. April)
Folge 2: Gesetzliche vs. private Krankenversicherung (9. April)
Folge 3: Haftpflicht, Kfz & Haustier - Was ist Pflicht, was ist sinnvoll? (16. April)
Folge 4: Die Berufsunfähigkeitsversicherung und ihre Alternativen (23. April)
Folge 5: Die Familie richtig absichern (30. April)
Folge 6: Wohnen & Wetterrisiken - Schutz für das eigene Zuhause (7. Mai)
Folge 7: Gesundheitskosten absichern - von Zahnzusatz bis Krankentagegeld (14. Mai)
Folge 8: Gut abgesichert streiten und reisen (21. Mai)
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"Problemfall" Krankenversicherung
ARD-Finanzredaktion: Viele der Sozialkassen klagen über die hohen Kosten. Mit welchen Problemen haben die Krankenversicherungen zu kämpfen?
Ziebarth: Die Krankenversicherung ist ein großes Problem und wird es auch in den nächsten zehn oder 20 Jahren bleiben. Wir haben uns in Deutschland schon immer ein sehr teures Krankenversicherungssystem geleistet - im internationalen Vergleich sehr umfassende Leistungen mit sehr geringen Zuzahlungen. Und vor allem haben wir die freie Arztwahl in Deutschland. Das ist auch ein Privileg und eher selten im weltweiten Vergleich.
Das heißt, wir sind hinter den USA in der Spitzengruppe, was die Ausgaben angeht. Das Problem ergibt sich zum einen daraus, dass die Beiträge immer weiter steigen. Die Lohnkosten für den Arbeitgeber steigen, und für den Arbeitnehmer bleibt immer weniger netto vom Brutto übrig. Es ist aber auch ein Problem, denn das, was hinten rauskommt für die Gesundheit der Menschen, ist im internationalen Vergleich nicht besonders gut. Wir sind da nur im Mittelfeld - obwohl wir ein sehr teures System haben.
Wir haben also noch Reserven, das System zu verbessern, ohne gleichzeitig Leistungen zum Nachteil der Menschen kürzen zu müssen. Man könnte zum Beispiel auf intelligente Art und Weise Selbstbehalte in Zukunft wieder einführen.
Einnahmen erhöhen oder Ausgaben senken?
ARD-Finanzredaktion: Was sind Lösungsansätze gegen die Beitragssteigerungen?
Ziebarth: Um den Beitragssatz für alle moderat zu halten, könnten Sie die Bemessungsgrundlage erweitern. Das heißt, man könnte auf mehr Einkommen Beiträge erheben. Das ist eine Abwägungssache: ob man jetzt die Einnahmeseite verbessert oder eher die Ausnahmeseite in den Blick nimmt; oder eine Kombination von beidem zulässt. Aber nochmal: Im internationalen Vergleich ist unser System schon sehr teuer bei mittelmäßigen Ergebnissen. Aus meiner Sicht spricht das dafür, dass man sich erst einmal die Organisation des Gesundheitswesens anschaut und gegebenenfalls zuerst dort Anpassungen vornimmt.
ARD-Finanzredaktion: Woher kommen hohen Beitragssteigerungen in der Krankenkasse?
Ziebarth: Das ergibt sich neben der demografischen Entwicklung durch die Technologisierung und durch neue Verfahren. Die medizinische Inflation, also die Kostensteigerung im Bereich Gesundheitswesen, liegt deutlich über der allgemeinen Inflation. Da sind wir bei fünf bis sechs Prozent. Allein schon aus dieser Tatsache ergibt sich im Prinzip, dass die Beiträge - wenn wir nichts ändern - steigen müssen.
Das hat auch damit zu tun, dass wir in Deutschland ein großzügiges Preissetzungssystem haben, zum Beispiel für die Pharmaindustrie. Wir müssen hier aber auch die Ärztinnen und Ärzte und alle Beschäftigten im Gesundheitswesen nicht vergessen, denen es nach Corona wohlverdient ist, dass sie ordentliche Lohnsteigerungen erfahren haben, aber das zahlen wir natürlich auch mit. Der aktuelle Schub hängt aus meiner Sicht noch mit den Nachwehen der Pandemie zusammen. Das bekommen wir jetzt zu spüren.
ARD-Finanzredaktion: Könnte ein Zusammenlegen von privater und gesetzlicher Krankenkasse - Stichwort Bürgerversicherung - das Krankenversicherungssystem entlasten?
Ziebarth: Bei der Bürgerversicherung bin ich sehr skeptisch. Es zielt im Prinzip darauf hinab, dass man die Einnahmenseite verbessert, indem man alle Personengruppe mit einbezieht. Aber man hat eben auf der anderen Seite auch Leistungsbezieher, die Ansprüche erwerben.
Beamten sind in der Tendenz Menschen, die sehr lange leben und dadurch auch relativ viele Leistungen beziehen. Das heißt, es ist gar nicht unbedingt klar, inwieweit das der finanziellen Seite helfen würde. Gleichzeitig wäre es ein enormer Aufwand, so eine große Reform zu implementieren. Das ginge ohnehin nur langsam über die Zeit. Ich bin mir nicht sicher, ob der zu erwartende Ertrag die Energie und den politischen Aufwand lohnt - zumal es da sehr große Gräben gibt. Deswegen halte ich es für weniger sinnvoll, sich darüber jetzt im tieferen Sinne Gedanken zu machen.
"Wir können die Beiträge nicht auf 50 Prozent steigen lassen"
ARD-Finanzredaktion: Welche Rolle spielt die aktuell schwächelnde Wirtschaft für die Sozialkassen?
Ziebarth: Je besser die Beschäftigung und je höher die Löhne, desto besser ist auch die Einnahmeseite für die Sozialversicherung. Da sind wir schon auf einem absteigenden Ast. Und da muss man aufpassen, dass sich die Lage dann nicht dramatisiert.
ARD-Finanzredaktion: Wie geht es mit den Beiträgen weiter?
Ziebarth: Die Beiträge werden steigen, und das ist ein sehr großes Problem, das noch nicht ganz in der Politik angekommen ist. Fakt ist, dass wir uns in den nächsten zehn bis 15 Jahren auf soziale Abgaben von ungefähr 50 Prozent einstellen müssen, wenn wir nichts unternehmen. Vor einigen Jahren gab es eine Sozialgarantie, nach der die Gesamtbelastung nicht über 40 Prozent steigen sollte, jetzt sind wir bei 42 Prozent. Das ist schon das Äußerste, was aus meiner Sicht tragfähig ist.
Je höher die Beiträge steigen, desto weniger Nettolohn bleibt den Menschen übrig - vor allem bei der Mittelschicht und den unteren Einkommen im Verhältnis. Wir reden die ganze Zeit darüber, wie wir Arbeitsanreize stärken und dass sich Arbeit wieder lohnen muss. Und da ist das ein ganz kritischer Punkt, übrigens auch für die Arbeitgeber: Wenn die Investitions- und Einstellungsentscheidungen treffen, spielt das eine große Rolle. Und aus meiner Sicht können wir die Beiträge nicht auf 50 Prozent steigen lassen. Das wird aber leider von der Politik im Moment etwas ausgeklammert.
Das Gespräch führte Antonia Mannweiler, ARD-Finanzredaktion, für den Podcast "Gold & Asche: Projekt Versicherung". Das Interview wurde für die schriftliche Fassung redaktionell bearbeitet.