Sicherheitskräfte an einer Straßensperre in Latakia in Syrien

Massaker an Zivilisten in Syrien Die Angst der Alawiten

Stand: 10.03.2025 03:24 Uhr

Drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien haben islamistische Kämpfer ein Massaker an Hunderten Alawiten verübt. Der Übergangspräsident äußerte sich lapidar - Beobachter sehen eine ethnische Säuberung.

Es sind dramatische Hilferufe von Alawitinnen und Alawiten aus den Küstengebieten im Nordwesten Syriens. "Leute, die Sache ist sehr ernst. Wir erleben eine echte Auslöschung. Bitte, bitte, die ganze Welt muss handeln. Wir werden hier ausgelöscht", sagt eine Frau aus dem Ort Dschabla in einer Sprachnachricht an die ARD - und sie fügt noch eine dringende Bitte hinzu: "Ich will nicht, dass mein Name in irgendeinem Bericht erscheint, denn wir sind noch immer in Gefahr und werden bedroht."

Auch eine andere Frau spricht in einer Sprachnachricht von unermesslicher Angst. Auch sie will lieber anonym bleiben: "Wir können nicht essen, wir sind in unseren Häusern wie gefangen - haben Angst rauszugehen. Wer sich vor die Tür wagt, wird entweder getötet oder entführt. Wir können einfach nicht wissen, wer uns da erwartet."

Berichte: Schon mehr als 1.300 Tote

Drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes haben islamistische Kämpfer übereinstimmenden Berichten zufolge Massaker an Hunderten Zivilisten verübt. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge wurden in der Küstenregion seit Donnerstag mehr als 1.300 Menschen getötet, darunter mindestens 830 Angehörige der alawitischen Minderheit.

Es ist der heftigste Gewaltausbruch, den Syrien seit dem Sturz Assads erlebt. Die Regierung macht dafür in erster Linie bewaffnete Assad-Anhänger verantwortlich, sie hat aber auch Übergriffe gegen alawitische Zivilisten durch islamistische Kämpfer eingeräumt.

"Herausforderungen, mit denen wir gerechnet haben"

Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa äußerte sich nach einem Moscheebesuch eher lapidar: "Was im Land geschieht, das sind Herausforderungen, mit denen wir gerechnet haben. Wir müssen die nationale Einheit und gesellschaftlichen Frieden bewahren."

Später berief der Präsident ein Komitee ein, das - so heißt es in dem Dekret - "die Ereignisse an der syrischen Küste" untersuchen soll. Und zwar sowohl Vergehen an Zivilisten als auch Angriffe auf Sicherheitskräfte durch Anhänger des Ex-Präsidenten Assad. Von Massakern ist nicht die Rede.

Öffentlicher Aufruf zum Dschihad

Dagegen wird Ramy Abdulrahman deutlich - er spricht von Hunderten getöteten Zivilisten. Der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sagte der ARD: "Den Massakern ging ein öffentlicher Aufruf zum Dschihad voraus, als wäre es eine Kriegsschlacht. Es gibt Videoaufnahmen, in denen gesagt wird: 'Wir sind gekommen, um die Alawiten zu töten.' Sie sagten nicht: 'Wir sind gekommen, um die Assad-Anhänger zu töten.' Das zeigt, dass es sich um eine ethnische Säuberung handelt. Das darf nicht straflos bleiben."

Abdulrahman arbeitet von Großbritannien aus - er dokumentiert seit Jahren das Kampfgeschehen in Syrien und verfügt über ein dichtes Netz von Informanten im Land. Er fügt hinzu: "Wenn es um Angehörige des-Assad Regimes geht, die Verbrechen begangen haben, dann würden wir ihre Verfolgung unterstützen und für ihre strafrechtliche Verfolgung eintreten. Aber die gesamte alawitische Gemeinschaft kann nicht kollektiv bestraft werden, nur weil Baschar al-Assad Alawit war."

Auch unter Alawiten gab es Regimegegner

Viele Alawiten ärgert es, dass sie regelmäßig als Anhänger des Assad-Regimes dargestellt werden. Richtig ist: Die Alawiten waren als Wehrdienstleistende in der syrischen Armee überrepräsentiert. Aber für die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft war das auch eine Falle, auch unter Alawiten gab es zahlreiche Regimegegner.

Einer, der vor Assad nach Deutschland geflohen ist, sagt: "Die Alawiten waren richtig froh, dass Assad weg ist, dass Assad nicht mehr an der Macht ist, dass Assad unsere Kinder nicht mehr in den Krieg schickt."

Versteckt zwischen Oliven- und Orangenbäumen

Islamisten in Syrien wiederum haben die Alawiten als Abtrünnige bezeichnet und die aktuelle Regierung in Damaskus hat die Glaubensgemeinschaft an den Rand gedrängt - das alles habe zu den aktuellen Gewaltexzessen beigetragen. Seine Familie, sagt der Mann, musste sich in den letzten Tagen zwischen Oliven- und Orangenbäumen verstecken: "Es gab vier Stunden, ich hatte keinen Kontakt mit meiner Familie dort. Ich wusste nicht, ob meine Familie lebt oder nicht. Das war wirklich die schlimmste Zeit meines Lebens."

Die Angst ist noch längst nicht weg - Alawiten rufen die internationale Gemeinschaft auf, sich für Fluchtkorridore aus den syrischen Küstengebieten einzusetzen. Momentan sind sie dort gefangen - die Straßen in die Region hat die syrische Regierung gesperrt.