Das Lagertor der Gedenkstätte Buchenwald

Gedenken an NS-Zeit "Wir müssen am Geschichtsbewusstsein arbeiten"

Stand: 06.04.2025 14:11 Uhr

Mit einem Festakt ist an den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald 1945 erinnert worden. Das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus steht vor einem Wandel. Wie kann es weitergehen?

Von Dagmar Weitbrecht, MDR

Stefanie Middendorf würde den Begriff "erinnern" gern beiseitelassen. Erinnerung könne es nur an etwas selbst Erlebtes geben, sagt die Historikerin der Universität Jena. Heute setzt sich die vierte oder fünfte Generation mit dem Nationalsozialismus auseinander.

Auch Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, tut sich mit dem Wort "Erinnerung" schwer. Er meint: "Wenn ich dann sage, erinnert euch, dann sieht man förmlich den erhobenen Zeigefinger. Das wirkt nicht unbedingt lernfördernd für junge Menschen."

Beide Wissenschaftler sind sich einig, dass es neue Konzepte für die Auseinandersetzung mit dem Thema braucht. Wagner wünscht sich "eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit dem Lernen, wenn nicht aus, aber dann zumindest an der Geschichte". Middendorf stellt die Frage, welches Wissen es über die Vergangenheit brauche, um mit gegenwärtigen Problemen oder Erfahrungen umzugehen.

Nationalsozialismus oft noch Tabuthema

Die Antworten auf Wagners Fragen können bis heute unbequem sein. In vielen Familien sind der Nationalsozialismus und die Rolle der Oma oder des Opas Tabuthemen. Doch es sei zu fragen:

Warum wurden Menschen zu Opfern, wer hat sie zu Opfern gemacht? Denn die wurden ja nicht quasi automatisch zu Opfern, sondern es waren handelnde Personen, die sie zu Opfern gemacht haben. Und wenn das handelnde Menschen waren, muss man fragen, was diese Menschen eigentlich angetrieben hat - die Täter und Täterinnen, die Mittäter und Mittäterinnen, aber auch die Profiteure der Verbrechen.

Historikerin Middendorf beobachtet, dass "gerade in Familien alternative Geschichten erzählt werden, die nicht der Realität entsprechen". Oder es werde etwas, was überwunden worden sei oder zumindest dafür gehalten wurde, neu erzählt. Im Klartext seien das Aussagen wie: "Im Nationalsozialismus ist nicht alles schlecht gewesen" oder "Mein Opa hat niemanden erschossen".

Jens-Christian Wagner

Stiftungs-Direktor Wagner: "Warum wurden Menschen zu Opfern?"

Pflichtbesuche für Schulklassen?

Für pädagogisch betreute Gedenkstättenbesuche in Buchenwald bei Weimar oder Mittelbau-Dora bei Nordhausen gibt es für Schulkassen inzwischen Wartelisten. Schon allein deshalb lehnt Wagner Pflichtbesuche ab, wie es sie bis 1989 gegeben hat. Er geht davon aus, "dass nicht mangelndes Wissen das Hauptproblem ist, sondern, dass das vorhandene Wissen nicht geschichtsbewusst angewandt wird, also dass die Gegenwartsbezüge nicht gestellt werden".

In dem Augenblick, wenn die Fragestellung erweitert und der Gegenwartsbezug gesucht wird, machten viele Jugendliche dicht. "Also wir müssen am Geschichtsbewusstsein arbeiten und eben nicht nur Fakten vermitteln", sagt Wagner. "Geschichtsbewusstsein ist etwas anderes als Faktenvermittlung, sondern es ist das Bewusstsein dafür, dass mein eigenes Ich historisch verankert ist, dass unsere ganze Gesellschaft historisch verankert ist".

Mit Wissen in die Gegenwart schauen

Middendorf, die an der Universität Jena auch Geschichtslehrer ausbildet, sieht schon die Vermittlung von Geschichtswissen als wesentlichen Punkt. Sie hält es aber außerdem für notwendig, mit dem Wissen zur NS-Geschichte in die  Gegenwart zu schauen. Beispielsweise auf das "Kippen" von Gesellschaften:

Das passiert ja in den 30er-Jahren nicht nur in Deutschland, sondern es passiert in vielen europäischen Gesellschaften. Die geraten in diesen Sog, wie wir ihn gegenwärtig vielleicht auch beobachten können. Grenzen des Sagbaren werden verschoben, autoritäre Figuren tauchen auf, ein charismatischer Führer. Der mobilisiert die Massen. Aber das ist viel kleinteiliger und da passiert sehr viel, wo Menschen sich selbst auch aktiv in den Dienst dieser Regime stellen.

Middendorf verweist darauf, dass es Gesellschaften geschafft haben, sich diesem Sog zu widersetzen und Demokratien erhalten haben.

Stefanie Middendorf

Middendorf forscht zur Neuesten Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Jena.

Aktuelle Weltlage forciert die Gedenkfrage

Das Ende der Zeitzeugenschaft werde einen fundamentalen Wandel auch für die Erinnerungskultur bedeuten, sagt Stiftungs-Direktor Wagner. Das Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager in Thüringen und des Endes des Zweiten Weltkrieges finde in schwierigen Zeiten statt. Es schwinde das Bewusstsein dafür, wie fundamental die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur für die demokratischen Strukturen sei.

Auch auf der internationalen Bühne zeige sich die Problematik. Wagner sagt mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und auf die USA unter Präsident Donald Trump: "Vielleicht ist das wirkliche Ende der Nachkriegsordnung nicht 1990, sondern jetzt gekommen, weil die liberale transatlantische Nachkriegsordnung vor dem Ende steht."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 06. April 2025 um 10:00 Uhr.