Menschen stehen bei einer Veranstaltung auf einer Straßenkreuzung in Berlin.

Verzerrte Wahrnehmung Warum die Größe von Minderheiten oft überschätzt wird

Stand: 08.04.2025 07:28 Uhr

Menschen tendieren dazu, den Anteil von Minderheiten in der Gesamtgesellschaft größer zu schätzen, als er ist. Eine Studie zeigt, dass das mit einem Rechenfehler des Hirns zu tun hat und nicht unbedingt mit Vorurteilen.

Von Constanze Álvarez, BR

Ganz gleich, ob es um Migranten, queere Menschen oder andere Minderheiten geht: In Umfragen tendieren wir dazu, diese Gruppen als größer einzuschätzen, als sie wirklich sind. Eine US-Studie, die vor Kurzem in der renommierten Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht wurde, zeigt: Das hat weniger mit Ängsten, Vorurteilen oder Fehlinformation zu tun, als mit der Art, wie unser Gehirn bei Unsicherheit eine Schätzung vornimmt.

Studie stützt sich auf breite Datenbasis

Für die Studie wurden schon vorhandene Daten von rund 100.000 Teilnehmern aus 22 Ländern neu analysiert. Die Befragten sollten die Größe verschiedener demographischer Gruppen einschätzen, einschließlich politisch sensibler Gruppen, wie beispielsweise Einwanderer oder queere Menschen. In den Datensatz floss unter anderem eine Umfrage aus Deutschland aus dem Jahr 2002 ein. "Die Befragten schätzten darin, dass Einwanderer 20 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachten", berichtet Co-Autor Tyler Marghetis. "Die tatsächliche Zahl damals war elf Prozent."

Parallel dazu ließ das Team um Kognitionsforscher Marghetis weitere Teilnehmer die Größe von alltäglichen, politisch belanglosen Gruppen einschätzen: Wie viele Menschen besitzen ein Handy? Oder eine Spülmaschine? Wie viele Menschen unterstützen Wohltätigkeitsorganisationen mit Spenden?

Tendenziell schätzen Menschen zur Mitte hin

Aus den Analysen kristallisierte sich ein "überraschend konsistentes Muster heraus", erklärt Marghetis. Wenn sich Menschen unsicher sind, verschieben sie ihre Schätzungen zur Mitte hin, dabei überschätzen sie kleine Gruppen und unterschätzten große Gruppen. "Entscheidend ist, dass dies bei jeder Gruppe geschah, nicht nur bei den Gruppen, die mit Vorurteilen oder Bedrohungen assoziiert werden", unterstreicht Marghetis.

In Zeiten von Desinformation und Populismus sei es umso wichtiger, dieser Tendenz zur verzerrten Wahrnehmung etwas entgegenzusetzen. "Was wir in dieser Studie gezeigt haben, ist, dass Menschen Fehler machen, aber diese Fehler spiegeln eine allgemeine kognitive Strategie zur Handhabung von Unsicherheiten wider." Das heißt: Je größer die Unsicherheit, desto stärker die Verzerrung.

Auswirkungen auf künftige Forschung

Für die zukünftige Forschung seien diese Ergebnisse äußerst wertvoll, sagt Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick. Bis jetzt hätte die Sozialpsychologie vornehmlich untersucht, wie stark sich ein Gefühl der Bedrohung durch Minderheiten auf deren Größeneinschätzung auswirkt.

Und welche Rolle Bildung oder soziale Kontakte dabei spielen. "Im Grunde genommen kann man jetzt auf der Grundlage dieser Studien ausrechnen: Wie stark ist der Effekt dieser kognitiven Verzerrung?" Auch Kognitionsforscher Sebastian Gluth von der Universität Hamburg zieht eine positive Bilanz: "Was mich daran freut, ist, dass diese Studie mit etablierten allgemeinpsychologischen Ansätzen und Methoden sehr überzeugend erklären kann, wie es zu diesen Verzerrungen kommt und meines Erachtens damit auch ein wenig die Hitze aus der politischen Debatte nehmen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell Fernsehen am 27. März 2025 um 19:30 Uhr.