"Ghosting" in der Arbeitswelt Wenn Job-Bewerber plötzlich abtauchen
Wer nach einer neuen Stelle sucht, hat in Zeiten der Personalnot oft viel Auswahl. Das führt dazu, dass ein Phänomen aus dem Dating auch im Berufsleben um sich greift: sogenanntes "Ghosting".
Eigentlich sind Vorstellungsgespräche für Neele Riemann absolute Routine. Die Personalberaterin aus Hamburg organisiert neue Mitarbeiter für verschiedene Hamburger Firmen. Aber seit einiger Zeit ist für Riemann bei den Gesprächen immer etwas Nervosität mit dabei. Denn sie erlebt zunehmend, dass Kandidatinnen und Kandidaten mitten im Bewerbungsprozess plötzlich den Kontakt abbrechen - ohne Angabe von Gründen.
Das löse viele Fragen aus, so Riemann. "Habe ich etwas falsch gemacht? Liegt es an mir?" Und es bleibe auch ein Gefühl der Entwertung der Arbeit, die sie investiert habe. "Und auch ein Stück weit eine Entwertung der eigenen Person, weil es ja auch etwas respektloses hat, den Kontakt einfach abzubrechen." Mehrmals pro Woche erlebe sie einen solchen Kontaktabbruch, sagt Riemann.
"Kontaktabbruch ohne erkennbaren Grund"
Unter Personalern wird das Phänomen "Ghosting" genannt. Der Begriff stammt eigentlich aus der Dating-Welt. Im Duden ist er definiert als "überraschender, völliger Kontaktabbruch (ohne erkennbaren Grund)". Nun scheinen neben Verliebten auch Personalerinnen und Personaler unter dem Phänomen zu leiden.
Das zeigen auch Umfragen: Nach einer Auswertung des Job-Portals Indeed und des Marktforschers Appinion hat dieses Verhalten deutlich zugenommen. Ein Großteil der befragten Personaler kenne das "Ghosting" aus dem eigenen Arbeitsalltag, so die Umfrage.
Knappheit wie seit dem Wirtschaftswunder nicht mehr
Auch Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung beschäftigt sich mit dem Phänomen. Er sieht den Hauptgrund fürs "Ghosting" im stark veränderten Arbeitsmarkt. "Arbeitskräfte sind heute in Deutschland wirklich knapp geworden. Im Grunde so knapp wie nicht mehr seit dem Wirtschaftswunder", sagt Weber. "Es dauert immer länger, qualifizierte Leute zu finden. Die Besetzungszeiten werden immer länger. Und immer häufiger wird die Suche nach Arbeitnehmern auch erfolglos abgebrochen."
Dies führe dazu, dass Bewerber heute mehr Job-Angebote hätten, als das früher der Fall gewesen sei. Wenn man viele Angebote habe, dann sei man eben in der Position, aus den vielen Angeboten zu wählen. "Mal angenommen, man hat ein Angebot, und man hat schon zugesagt. Dann kommen aber auch noch andere Angebote rein, und dann ist es einem unangenehm abzusagen, oder es ist einem auch nicht mehr so wichtig." Dann könne es passieren, dass man sich einfach nicht mehr zurückmelde.
Eine Frage des Benehmens?
Wichtig ist Weber dabei aber: Phänomene wie Job-"Ghosting" hießen nicht automatisch, dass Arbeitnehmer heute ein schlechteres Benehmen hätten als früher. "Man fängt dann schnell an zu sagen, dass die Leute heute schlechter erzogen sind." Dies sei aber nicht so. Vielmehr hätten sich die Marktbedingungen so geändert, dass man heute überhaupt erst in der Lage sei, sich so ein Verhalten ohne Probleme leisten zu können. Wären die Arbeitsmarktbedingungen vor 20 Jahren so gewesen wie heute, hätten die Menschen vermutlich ähnlich gehandelt.
Und auch die vielgescholtene "Generation Z" verteidigt Weber. "Es heißt immer: 'Die wechseln ständig den Arbeitgeber, die sind nicht mehr gebunden, die haben keinen Bock'", so der Experte. "Das stimmt überhaupt nicht." Die jungen Menschen heute wechselten laut Statistik nicht öfter den Job, als dies vor einigen Jahrzehnten der Fall gewesen sei. "Der 'Generation Z' irgendwas in die Schuhe schieben zu wollen, das passt nicht."
"Unternehmen in der Bewerberrolle"
Die veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt verschieben die klassischen Rollenbilder zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. "Plötzlich sind die Unternehmen in der Bewerberrolle", sagt Anna Maria Heidenreich von der Hamburger Handelskammer. Die Arbeitgeber müssten nun einiges tun, um attraktiver für mögliche Mitarbeiter zu sein. So müsse man die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherstellen. Durch Führungspositionen in Teilzeit etwa könne man mehr Frauen für diese Rollen anwerben. Auch für Menschen, die Angehörige pflegten, seien flexible Arbeitszeiten wichtig.
Aber auch bei der Ansprache möglicher Bewerber könne man vieles beachten, so Heidenreich. "Wenn ich schon in die Stellenausschreibung 20 hohe Anforderungen schreibe, muss ich mich nicht wundern, wenn sich Menschen davon abschrecken lassen." Heidenreich plädiert dafür, genau zu prüfen, wie die Anzeigen auf mögliche Bewerber wirken könnten.
Und auch im Bewerbungsprozess müsse man sehr auf die Kandidaten und deren Reaktionen achten. "Man merkt ja auch zum Beispiel im Bewerbungsgespräch: Welche Themen interessieren den Bewerber besonders, wo hakt er viel nach?" Nach einem Gespräch könne man sich dann nochmal bei den Bewerbern melden, diese Punkte betonen und sich als Unternehmen gut präsentieren.
Sorgen bei den Personalern
Auch Personalberaterin Riemann und ihre Kollegen beim Hanseatischen Personalkontor (HAPEKO) müssen heute umdenken. Sie rekrutieren mehr Kandidaten als früher für jedes Projekt, da erfahrungsgemäß ein größerer Teil wieder absagt - oder eben "ghosted". Und die Sorge bei den Personalern ist groß, dass sich die Lage noch verschärfen wird in Zukunft.
Arbeitsmarktforscher Weber kann diese Furcht nicht ausräumen. "Die große Schrumpfung bei den Arbeitskräften kommt erst noch, bisher ist die Zahl immer noch gestiegen." In den kommenden Jahren aber werde die Babyboomer-Generation in Rente gehen. Ihr gehöre die größte Bevölkerungsgruppe an. Und nachrücken werde mit der "Generation Z" eine vergleichbar kleine Anzahl an Menschen.
Dann werde es erst so richtig eng, so Weber. "Wir können nicht davon ausgehen, dass sich an dieser Mangel-Situation irgendwas ändert in Zukunft". Das Phänomen "Ghosting" dürfte damit auch in der Berufswelt weiter ein Thema bleiben. Auch, wenn Personalerin Riemann auf das Gegenteil hofft.