Truppen der syrischen Übergangsregierung vor einem Militäreinsatz in Latakia
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Nach Sturz von Assad Warum in Syrien wieder gekämpft wird

Stand: 08.03.2025 14:09 Uhr

Syrien wird drei Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Assad von schweren Kämpfen erschüttert. Was ist über mutmaßliche Massaker an der Zivilbevölkerung bekannt? Und wie reagieren die neuen Machthaber? Ein Überblick.

Was ist über die Kämpfe bekannt?

Rund drei Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Baschar al-Assad ist es in Syrien zu heftigen Kämpfen und Berichten zufolge zu schweren Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen. Mindestens 340 Zivilisten sollen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Kämpfern aufseiten der neuen Übergangsregierung getötet worden sein. Auch Frauen und Kinder sollten unter den Toten sein.

Aktivisten aus der Stadt Idlib, mit denen die Nachrichtenagentur dpa sprechen konnte, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung dafür verantwortlich. Sie sollen sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben. Laut dem syrischen Staatsfernsehen sollen sich dagegen Unbekannte mit Uniformen der Regierungstruppen verkleidet und die Taten begangen haben, um einen Bürgerkrieg anzustiften. 

Die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle, die den Konflikt über ein Netzwerk von Informanten verfolgt, sprach von Massakern in mindestens 21 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus und Hama. Die westlichen Küstenregionen gelten als Hochburgen der Alawiten, einer religiösen Gemeinschaft, der auch der gestürzte Machthaber Assad angehört.

Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights, SOHR) sitzt in Großbritannien und will Menschenrechtsverletzungen in Syrien dokumentieren. Sie bezeichnet sich als unabhängig. Die Informationen der Beobachtungsstelle lassen sich nicht unabhängig überprüfen.  

Was sagt die neue syrische Regierung?

Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich gestern Abend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten versucht, "das neue Syrien zu testen", sagte er. Al-Scharaa lobte zudem die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief deren Gegner auf, ihre Waffen niederzulegen.

Jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef an, für den die Auseinandersetzungen den ersten großen Test seit der Machtübernahme darstellen. Die Massaker erwähnte er nicht direkt. Er richtete jedoch einen Aufruf an "alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben", sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und "die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstöße zu kontrollieren".

Der Chef des syrischen Geheimdienstes, Anas Khatab, hatte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Präsidenten für die Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der mehrere Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien, teilte Khatab mit. Sie würden dabei aus dem Ausland gesteuert. Die Beobachtungsstelle hatte berichtet, dass bei Angriffen am Donnerstag 16 Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung getötet worden waren.

Wo spielen sich die Kämpfe ab?

Die Auseinandersetzungen spielen sich vor allem an der Mittelmeerküste ab. Die Region gilt als Hochburg der religiösen Minderheit der Alawiten. Unter anderem in der Stadt Dschabla etwa 25 Kilometer südlich von Latakia, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll es zu schweren Gefechten gekommen sein. Für Latakia und auch die weiter südlich gelegene Küstenstadt Tartus wurden bis heute Vormittag Ausgangssperren verhängt.

Nach Angabe eines Offiziers verlegte die Regierung größere Truppenkontingente in die Küstenregion. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden, hieß es.

Was ist über mutmaßliche Massaker an der Zivilbevölkerung bekannt?

Ein Augenzeuge in der Stadt Banias, wo allein 60 Menschen getötet worden sein sollen, sagte der Nachrichtenagentur dpa am Telefon, es herrsche totales Chaos. "Unschuldige Menschen, die unbewaffnet waren, wurden entweder in ihren Häusern oder davor vor den Augen ihrer Familien erschossen", so der Mann, der aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden wollte.

"Es wurden Massaker an der alawitischen Religionsgemeinschaft verübt", sagte der Direktor der Beobachtungsstelle, Rami Abdel-Rahman.

Im syrischen Staatsfernsehen hieß es wiederum, Unbekannte hätten die Taten in Uniformen der Regierungstruppen verkleidet begangen, um so einen Bürgerkrieg auszulösen. Geheimdienstchef Khatab hatte die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung aufgerufen.

Welche internationalen Reaktionen gibt es?

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, zeigte sich angesichts der Berichte "zutiefst besorgt". Er rief in einer Mitteilung alle Seiten auf, von Handlungen abzusehen, "die die Spannungen weiter anheizen" und das Land destabilisieren könnten. Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse im Einklang mit dem Völkerrecht gewahrt werden, so Pedersen.

Das Auswärtige Amt in Berlin forderte ein Ende der Spirale der Gewalt. "Wir sind schockiert angesichts der zahlreichen Opfer in den westlichen Regionen Syriens", erklärte das Ministerium. "Wir rufen alle Seiten auf, friedliche Lösungen, nationale Einheit, einen umfassenden politischen Dialog und eine Übergangsjustiz anzustreben, um die Spirale der Gewalt und des Hasses zu durchbrechen."

Russland, der ehemals wichtigste Verbündete Assads in dem 13 Jahre dauernden Bürgerkrieg, forderte die syrischen Behörden auf, alles zu tun, "um das Blutvergießen so schnell wie möglich zu beenden".

Der Iran, der ebenfalls Assad unterstützte, beschrieb die Vorfälle als "Wegbereiter für die Ausbreitung von Instabilität in der Region". Ein Außenministeriumssprecher erklärte zudem, das Land habe "keine Eile", Beziehungen zur neuen syrischen Regierung aufzubauen.

Wie reagiert die Bevölkerung?

Tausende Menschen versammelten sich in Damaskus und etlichen anderen Städten, um gegen die bewaffneten Anhänger von Ex-Präsident Assad zu demonstrieren. Viele forderten, die bewaffneten Angriffe zurückzuschlagen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Menschen versammeln sich während einer Kundgebung zur Unterstützung der syrischen Regierung in Damaskus.

Menschen versammeln sich während einer Kundgebung zur Unterstützung der syrischen Regierung in Damaskus.

In der Küstenregion im Westen des Landes sind teilweise noch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu der im Dezember gestürzten Vorgängerregierung aktiv. Der Sprecher des syrischen Verteidigungsministeriums, Hasan Abdal Gany, teilte mit, wer seine Waffen nicht niederlege, müsse sich einem "unausweichlichen Schicksal" stellen.

Die Beobachtungsstelle rief die internationale Gemeinschaft zum dringenden Handeln auf und forderte die Entsendung von Experten, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Zudem appellierte sie an die syrischen Behörden in Damaskus, die Verantwortlichen für die Hinrichtungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Assad hatte Syrien mehr als zwei Jahrzehnte regiert. Nach einer Blitzoffensive unter Führung der Islamistengruppe HTS Ende vergangenen Jahres floh er nach Russland. Die neue Übergangsregierung unter Führung von al-Scharaa versucht seitdem, die Sicherheit im Land wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Al-Scharaa versprach bei Amtsantritt, alle Gruppen in dem Land in einen Prozess der politischen Erneuerung einzubeziehen und Menschenrechte zu achten. Er hofft damit auf eine Aufhebung westlichen Sanktionen gegen sein Land.

Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 08. März 2025 um 09:35 Uhr.