
Hamburg Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Schleswig-Holstein Koalitionsvertrag: Schulterklopfen und harsche Kritik aus dem Norden
Die Reaktionen aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg auf den Koalitionsvertrag von Union und SPD fallen sehr unterschiedlich aus. Vertreter von Linken, Grünen und AfD übten scharfe Kritik, während norddeutsche Politiker von CDU und SPD sich lobend äußerten.
Am Mittwoch hatten der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), die beiden SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sowie CSU-Chef Markus Söder ihre Koalitionsvereinbarung vorgestellt, die allerdings noch von Parteigremien ratifiziert werden muss. Von "halbgarer Kompromiss" bis "verantwortungslos" lauten die Reaktionen von Vertretern der Parteien, die in der künftigen Regierung nicht "mitspielen" dürfen.
Scharfe Kritik von Grünen und AfD aus Niedersachsen
Als "ambitionslos und in Teilen sogar rückschrittlich" wertete Niedersachsens Grünen-Landesvorsitzende Greta Garlichs die Koalitionsvereinbarung. Viele zentrale Aufgaben vom Klimaschutz über soziale Gerechtigkeit bis zur nachhaltigen Entwicklung würden konterkariert, wichtige Erfolge der Ampelkoalition rückabgewickelt.
Für die AfD in Niedersachsen nannte deren Vorsitzender Ansgar Schledde den Koalitionsvertrag eine Kapitulationserklärung. "Von der Kernkraft ist keine Rede mehr. Die Steuersenkungen bleiben minimal." Und statt des von Merz versprochenen Kurswechsels in der Migrationspolitik gebe es halbgare Kompromisse. Merz habe den Wählern eine konservative Wende versprochen, nun liefere er ein linkes "Weiter so" ab, kritisierte Schledde.
Weil lobt Erleichterungen für energieintensive Betriebe
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hingegen sieht viele richtige Schwerpunkte im Koalitionsvertrag. "Da sind zum einen die Verfassungsänderungen, zu denen sich alle Beteiligten, einschließlich der Grünen, durchgerungen haben. Sie sind notwendig, um die Sicherheitslage in unserem Land zu verbessern." Aber auch, dass man sich auf Kostenerleichterungen für energieintensive Unternehmen geeinigt habe, hob Weil hervor. Damit werde eine alte Forderung der niedersächsischen Landesregierung realisiert.
Sebastian Lechner, CDU-Fraktions- und Landesvorsitzender in Niedersachsen, lobte auf NDR Info, der Koalitionsvertrag setze auf eine umfassende Entbürokratisierung und stärke nachhaltige, innovative Agrartechnologien.
MV: Schwesig sieht Ostdeutschland berücksichtigt
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) lobte, es seien "zentrale Anliegen des Ostens in den Verhandlungen untergebracht" worden. Dies würde sich positiv in MV auswirken. So würden rund 100 Milliarden Euro, die aus dem vereinbarten Sondervermögen an die Länder fließen sollen, es auch in ihrem Bundesland ermöglichen, Straßen, Schulen, Kitas und Infrastruktur schneller zu planen, zu bauen und zu modernisieren. Der Einstieg deutscher Werften in die Offshore-Konverterproduktion sei eine "echte Zukunftschance" und sichere Arbeitsplätze. Die Landwirte würden von unnötiger Bürokratie entlastet, der Agrardiesel wieder eingeführt und die Regelungen für Saisonarbeiter im Sinne der Landwirte verbessert. Schwesig betonte zudem auf NDR Info, wie wichtig es sei, dass die künftigen Koalitionsparteien sich nicht streiten und die "vielen Punkte, die wirklich gut sind", rasch umsetzen.
Arbeitgeberpräsident in MV: Positives überwiegt
Mecklenburg-Vorpommerns Arbeitgeberpräsident Lars Schwarz sagte, in der Koalitionsvereinbarung "überwiegen die positiven Punkte". Ein "Riesenerfolg" sei die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie zurück auf sieben Prozent. Er begrüße auch die Erhöhung der Pendlerpauschale und die Senkung der Körperschaftssteuer. Negativ vermerkte Schwarz, dass der Solidaritätszuschlag bleibe und auch im Bund ein Tariftreuegesetz für öffentliche Aufträge eingeführt werden soll.
Der Generalsekretär der CDU in MV, Philipp Amthor, sagte auf NDR Info, er sei mit dem Koalitionsvertrag sehr zufrieden. Er sehe eine breite Unterstützung der CDU-Basis: "Wir haben immerhin 13 von 15 Punkten aus unserem Sofortprogramm durchsetzen können."
Hamburgs Linke spricht von "Dokument der Verantwortungslosigkeit"
Falsche Schwerpunkte im Bundeshaushalt sieht hingegen Hamburgs Linken-Fraktionschef David Stoop. Er bezeichnete den Koalitionsvertrag als "Dokument der Verantwortungslosigkeit": Auf der einen Seite solle es "Steuererleichterungen geben für Reiche und Konzerne, bei der Körperschaftssteuer beispielsweise". Auf der anderen Seite "soll ausgerechnet bei denen, die die größten Probleme haben in dieser Gesellschaft, angesetzt werden mit stärkeren Sanktionen beim Bürgergeld und mit dem weiteren Aussetzen des Rechts auf Asyl". Zudem meinte Stoop: "Wir brauchen nicht eine unbegrenzte Aufrüstungspolitik, sondern Investitionen im sozialen Bereich, bei Gesundheit und Bildung."
Hamburgs AfD-Chef Dirk Nockemann sprach von einem Einknicken der Union: Mit dem Finanzressort und dem Verteidigungsministerium würden "zwei wichtigste Schlüsselpositionen" an "die Wahlverlierer von der SPD" gehen.
Die Hamburger Grünen-Fraktionschefin Sina Imhof kritisierte CDU-Chef Merz noch einmal für dessen "Stammtischparolen im Wahlkampf". Damit müsse nun Schluss sein, denn "jetzt trägt er die Verantwortung".
Hamburger Wirtschaft bewertet Vertrag überwiegend positiv
Hamburger Wirtschaftsvertreter nahmen den Koalitionsvertrag größtenteils positiv auf: Steuerfreie Überstunden sowie weniger Stromsteuern und Netzentgelte seien starke Akzente, um die Wirtschaft zu beleben, sagt Hjalmar Stemmann, Präsident der Handwerksammer. Auch der Vorsitzende des Industrieverbands, Andreas Pfannenberg, begrüßte die geplanten Energiepreis-Entlastungen. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Nordmetall, Nico Fickinger, kritisierte, dass das Rentensystem nicht angetastet werden soll. Dadurch könnten Sozialabgaben weiter steigen.
Hamburgs Hafenwirtschaft äußerte sich erfreut darüber, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden sollen - unter anderem durch Einschränkung des Verbandsklagerechts. Hamburgs NABU-Chef Malte Siegert sieht das allerdings als großes Problem: Natur- und Umweltschutz könnten einen Bedeutungsverlust erleiden, so Siegert. Die Einschränkung des Verbandsklagerechts zeige, dass die kommende Bundesregierung ungebremst den Flächenverbrauch forciere.
Gewerkschaften kündigen kritische Begleitung an
Auch von den Gewerkschaften kommt ein geteiltes Echo. "Wir sehen klare Perspektiven für Beschäftigte und Wachstum", sagte Tanja Chawla, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Hamburg. Kritisch aber bewertete sie die Vorhaben in Sachen Migrationspolitik und fürchtet negative Auswirkungen auf die Attraktivität Deutschlands für ausländische Fachkräfte. Auch die ver.di-Landesbezirksleiterin Sandra Goldschmidt sieht viele positive Ansätze für Arbeitnehmer und fügt hinzu: "Die Gewerkschaften werden darauf achten, dass das auch wirklich umgesetzt wird - etwa, wenn es um die Erhöhung des Mindestlohnes geht."
CDU Hamburg: "Starker Vertrag"
Hamburgs CDU-Chef Dennis Thering freute sich hingegen über die Einigung im Bund - sie sei "ein starker Vertrag", sagte er. "Es gibt keine Steuererhöhungen, stattdessen Steuervergünstigungen für die Menschen und Unternehmen." Und: "Wir haben einen klaren Kurs in der Migrationspolitik."
Zurückhaltender reagierte SPD-Landeschefin Melanie Leonhard, denn es gibt noch mindestens eine Hürde für die Koalitionsvereinbarung: "Wir werden jetzt mit unseren Mitgliedern den Vertrag diskutieren, und dann gibt es ein Mitgliedervotum. Ich bin ganz zuversichtlich."
Günther: Starke schleswig-holsteinische Handschrift erkennbar
Aus schleswig-holsteinischer Perspektive hält Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) den Koalitionsvertrag vor allem in Sachen Energiepolitik für gelungen: "Der Ausbau von Windkraft soll genau in der Form auch stattfinden, wie vereinbart. Das ist auch für uns in Schleswig-Holstein sehr wichtig." Er lobte im Interview mit NDR Schleswig-Holstein auch die geplante Senkung der Stromsteuer und die Reduzierung von Umlagen und Netzentgelten. In den Vereinbarungen zu Bildung und Soziales sei die starke schleswig-holsteinische Handschrift klar erkennbar, sagte Günther: Sprach- und Startchancen-Kitas sowie der Digitalpakt Schule seien zentrale Forderungen, die Bildungsministerin Karin Prien (CDU) schon in SH und bundesweit vorangetrieben habe.
Norddeutsche als Ministerinnen und Minister im Gespräch
Nicht nur inhaltlich wird Norddeutschland in der künftigen Bundesregierung vertreten sein, sondern voraussichtlich auch wieder personell: Nach ARD-Informationen soll der Osnabrücker Boris Pistorius (SPD) als Verteidigungsminister im Amt bleiben. Als neuer Finanzminister und Vizekanzler wird SPD-Chef Klingbeil heiß gehandelt, der ebenfalls aus Niedersachsen stammt.
Aussichten auf einen Kabinettsposten hat außerdem Silvia Breher. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende aus dem Landkreis Cloppenburg könnte Ministerin für Bildung und Familie werden. Für das selbe Amt ist allerdings auch die derzeitige schleswig-holsteinische Bildungsministerin Prien im Gespräch. Und das Außenministerium könnte laut Medienberichten künftig der Schleswig-Holsteiner Johann Wadephul leiten. Ob der aus Hildesheim stammende Hubertus Heil (SPD) Arbeitsminister bleibt, ist noch unklar - er wird auch als SPD-Fraktionschef gehandelt. Aber: Alles noch Spekulation - offizielle Besetzungsvorschläge soll es erst nach dem SPD-Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag geben.
Billigerer Strom, keine Wehrpflicht, Grundsicherung statt Bürgergeld
Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags mit dem Titel "Verantwortung für Deutschland" zählte CDU-Chef Merz am Mittwoch einige der in den rund vierwöchigen Verhandlungen vereinbarten Ziele auf: So soll etwa die Stromsteuer reduziert, die Gaspreisumlage abgeschafft und ein Industriestrompreis eingeführt werden. Überstunden sollen steuerfrei gestellt werden, für die Aktivrente ist eine monatliche Förderung von 2.000 Euro vorgesehen. Die neue Grundsicherung werde das Bürgergeld ersetzen.
Die Wehrpflicht soll nicht wieder eingeführt werden: "Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert", sagte Merz. Vorbild dafür sei Schweden, wo jährlich 18-Jährige angeschrieben und ein Teil von ihnen gemustert wird.
Zudem werde die künftige Regierung einen neuen Kurs in der Migration einschlagen und "irreguläre" Migration größtenteils beenden, auch durch Grenzkontrollen. Die Zahl "sicherer Herkunftsstaaten" solle deutlich vergrößert werden. Außerdem will Schwarz-Rot Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine statt Bürgergeld künftig nur die geringeren Leistungen für Asylbewerber zugestehen.
Mietpreisbremse und Deutschlandticket bleiben
Nach Angaben von SPD-Co-Chefin Saskia Esken soll die Mietpreisbremse verlängert werden. Zudem werde das Rentenniveau bei 48 Prozent über die Legislaturperiode hinaus festgeschrieben. Das Deutschlandticket für den Nahverkehr soll erhalten bleiben - mit einer Preiserhöhung voraussichtlich ab 2029.
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NDR Info | NDR Info | 10.04.2025 | 21:45 Uhr