AfD im Bundestag Taktik rund um die Vertrauensfrage
Am 16. Dezember wird der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellen. Sein Ziel: Neuwahlen. Doch was wäre, wenn AfD-Abgeordnete dem Kanzler das Vertrauen aussprechen? Einer hat sich bereits entschieden.
Fast fünf Jahre ist es jetzt her, da erschütterte ein politisches Erdbeben in Thüringen die ganze Republik. In Erfurt wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt. Mit den Stimmen der AfD. Damit war zum ersten Mal in Deutschland ein Ministerpräsident durch eine in Teilen rechtsextreme Partei ins Amt gekommen.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer brachte das um ihr Amt und die Kanzlerkandidatur. Die AfD hatte maximales Chaos ausgelöst.
Scholz als das "kleinere Übel"
Was wäre, wenn sich ein solches Szenario im Bundestag wiederholen würde? Wenn AfD-Abgeordnete dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen? Das Chaos wäre ähnlich groß.
Die Frage stellt sich konkret. Einer, der sie aufbringt, kommt aus Thüringen. Der AfD-Abgeordnete Jürgen Pohl hat sich bereits entschieden: Olaf Scholz sei für ihn das "kleinere Übel", sagt er im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Das größere Übel ist in seinen Augen Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz.
Pohl denkt an die Aussagen von Merz zu Russland, in denen er eine Provokation sieht. Der CDU-Chef hatte sich offen für eine "Taurus"-Lieferung gezeigt, wenn Russland weiter die Ukraine bombardiere. AfD-Politiker Pohl sagt: Unter einem Bundeskanzler Merz würde die Gefahr eines Atomkrieges steigen. Und Pohl betont, er mache seiner Fraktion ein "Angebot, um nachzudenken". An der Basis in Thüringen werde die Haltung goutiert.
Einige Abgeordnete noch nicht entschieden
Und es wird nachgedacht. Die AfD-Abgeordnete Christina Baum nennt Friedrich Merz einen "Kriegskanzler", der verhindert werden müsse. Agieren will sie allerdings eher spontan. "Meine Entscheidung treffe ich am Tag der Abstimmung als freier Abgeordneter und nach bestem Wissen und Gewissen."
Auch unter den Reihen der ehemaligen AfD-Abgeordneten ringen einige mit sich. Das sind die, die heute in den letzten Reihen sitzen und deren Zeit im Bundestag nach den Neuwahlen enden wird. Dirk Spaniel - gerade aus der Partei ausgetreten - teilt mit, er habe sich noch nicht entschieden. Thomas Seitz, der die Partei im März verlassen hatte, will sich "erst unmittelbar vor der Stimmabgabe" festlegen. Anders Joana Cotar, die vor zwei Jahren ausgetreten ist. Sie schreibt, sie werde "zehn Kreuze schlagen, wenn diese Regierung endlich Geschichte ist".
Es seien die üblichen Verdächtigen, die jetzt ausscheren, vielleicht maximal fünf, heißt es von anderen aus der AfD-Fraktion. Der Sprecher von Alice Weidel nennt es eine "starke Mindermeinung". Insgesamt sei der Fraktion klar, dass man nicht seit Ewigkeiten Neuwahlen fordern und jetzt so eine "komische Wendung" hinlegen könne.
"Bei der Vertrauensfrage zählt in erster Linie das Gewissen"
Wie realistisch ist es, dass die AfD plötzlich Olaf Scholz vertraut? Der brandenburgische AfD-Landesvorsitzende und Bundestagsabgeordnete René Springer hält ebenso wenig von der Idee, dem Kanzler zu helfen, im Amt zu bleiben: "Bei der Vertrauensfrage zählt in erster Linie das Gewissen jedes einzelnen Abgeordneten. Mein Gewissen sagt mir, dass Kanzler Scholz mitsamt seiner Regierung so schnell wie möglich abgewählt werden muss."
Ähnlich sieht es Bundesvorstandsmitglied Kay Gottschalk aus Nordrhein-Westfalen. Er hält diese Position für brandgefährlich. "Die Menschen vor Ort und unsere Mitglieder wollen Neuwahlen. Und persönlich vertraue ich Scholz nach Cum-Ex und Wirecard nicht mehr."
Mihalic traut der AfD taktische Spielchen zu
SPD und Grüne wollen sich nicht von der AfD treiben lassen. In der SPD geht man offiziell davon aus, dass man dem eigenen Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen wird. Für die Grünen erklärt die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin, Irene Mihalic: "Der AfD ist vieles zuzutrauen, wenn es um taktische Spielchen geht. Wir positionieren uns völlig unabhängig davon zur Vertrauensfrage."
Scholz muss Kanzlermehrheit verfehlen
Eine wichtige Frage ist: Wie wird abgestimmt? Kanzler Scholz möchte Neuwahlen, er muss die Vertrauensfrage verlieren. Das heißt also, er muss die sogenannte Kanzlermehrheit verfehlen. Die liegt bei 367 Stimmen.
Die rot-grüne Minderheitsregierung verfügt über 324 Abgeordnete. Das bedeutet, es geht um 43 Stimmen. Es müsste also mehr als die Hälfte der AfD-Fraktion für Scholz stimmen, damit das passiert, was er eigentlich nicht will - dass Scholz das Vertrauen ausgesprochen bekommt. Das gilt im Moment als eher unwahrscheinlich.
Wenn wie zuletzt 2005, als Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vertrauensfrage stellte, namentlich abgestimmt wird, wäre auch klar nachvollziehbar, wer dem Kanzler das Vertrauen ausspricht. Und dann hätte die AfD ein Problem: Eine Partei, die Anfang Dezember ihre Chefin zur Kanzlerkandidatin ausruft und dann für Scholz stimmt? Kaum vorstellbar - es würde Alice Weidel massiv beschädigen.