
Experten fordern Reform Notfall Rettung
Uneinheitlich, veraltet, ineffektiv: Seit Jahren kritisieren Experten den Zustand der Notfallversorgung in Deutschland. Die Ampel wollte das Problem angehen, aber zerbrach zuvor. Kommt nun ein neuer Anlauf?
Wer die Notrufnummer 112 wählt, landet automatisch in einer Leitstelle. Hier schätzen die Mitarbeiter die Situation ein und koordinieren Rettungseinsätze. Fast jeder Landkreis hat eine eigene Leitstelle - mit eigener Technik und eigenen Regeln.
Für Janosch Dahmen von den Grünen, selbst Notfallmediziner, gibt es dabei ein zentrales Problem: Es fehlen einheitliche Standards. "Während andere Länder längst vernetzt - mit der gleichen Software, der gleichen Sprache in den Leitstellen - arbeiten, haben wir zwischen 200 bis 300 Leitstellen in Deutschland, die irgendwie an jeder Milchkanne, spitz gesagt, für sich selbst arbeiten", sagt der Gesundheitspolitiker.
Das kann bedeuten, dass nicht unbedingt der Rettungswagen geschickt wird, der am schnellsten beim Patienten wäre. Denn die Leitstelle sieht in der Regel nur die verfügbaren Rettungswagen aus ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich.
Unterschiede je nach Bundesland
Wie schnell ein Rettungswagen im Notfall am Einsatzort sein muss, ist auch nicht einheitlich geregelt. Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Und kann auch davon abhängen, ob der Rettungswagen in der Stadt oder auf dem Land unterwegs ist.
Bei Weitem nicht der einzige Unterschied: In manchen Leitstellen stehen Ersthelfer bereit, die im Notfall per Telefon bei der Wiederbelebung helfen können. In anderen Leitstellen gibt es diese Hilfe nicht. "Dass wir hier nicht standardisiert arbeiten, ist für Menschenleben in Deutschland eine echte Gefahr", kritisiert Dahmen. Das mache das System sehr, sehr teuer, träge und nicht mehr zeitgemäß.
Stiftung legt Verfassungsbeschwerde ein
Auch die Björn Steiger Stiftung, die sich seit Jahrzehnten für das Rettungswesen einsetzt, sieht eklatante Missstände in Deutschland. Sie hat Verfassungsbeschwerde eingereicht mit dem Ziel, bundesweit einheitliche Standards zu erreichen.
Obwohl Notärzte und Rettungskräfte vorbildlich ausgebildet seien, befinde sich die Bundesrepublik bei der Notfallrettung organisatorisch auf dem "Niveau eines Entwicklungslandes", kritisierte der Stiftungspräsident, Pierre-Enric Steiger, vor wenigen Wochen. Kein Bundesland habe einen guten Rettungsdienst, ausgenommen einzelne Leuchtturmprojekte.
Die Beschwerde zielt laut Steiger auf die Feststellung, dass die jetzige Regelung gegen das Grundgesetz verstößt - um dann eine bundesweite Verbesserung in Angriff nehmen zu können. "In Deutschland sterben jedoch Menschen rein systembedingt", sagte Steiger.
Reform scheiterte nach Ampel-Bruch
Die Politik hat das Problem bereits erkannt: Die Ampelkoalition erarbeitete während ihrer Regierungszeit eine umfassende Reform. Gesundheitsminister Karl Lauterbach versprach: "Am Ende der Reform werden wir einen funktionierenden, deutschlandweit relativ einheitlichen Rettungsdienst und eine deutlich bessere Notfallversorgung haben."
Doch das Ende der Ampel kam, bevor die Reform vom Bundestag verabschiedet werden konnte. Eigentlich sollten Patientinnen und Patienten in Zukunft besser gesteuert werden - um Rettungsdienste und Notaufnahmen zu entlasten. Denn längst nicht jeder und jede, die den Notruf wählt, ist wirklich ein Fall für den Rettungswagen.
Der Plan war, die Notrufnummer 112 und die Nummer des kassenärztlichen Notdienstes, 116 117, miteinander zu vernetzen. In einer gemeinsamen Leitstelle sollte dann entschieden werden, wie den Anrufern am besten geholfen werden kann. Muss wirklich ein Rettungswagen geschickt werden? Oder ist es eher ein Fall für eine Notfallpraxis?
Auch Behandlungen per Telefon oder Video sollten für Entlastung sorgen, meint der Grünen-Politiker Dahmen. "Das kann auch manchmal ein Telenotarzt, ein Telemediziner sein. Das können spezielle Notfallpflegekräfte sein oder ein notfallpsychiatrisches Team."
Union und SPD planen neuen Anlauf
Die nächste Regierung wird einen neuen Anlauf unternehmen, die Notfallmedizin zu reformieren. In der ersten Runde der Koalitionsverhandlungen hatten sich Union und SPD darauf geeinigt, schnell eine entsprechende Reform auf den Weg zu bringen - möglichst in den ersten 100 Tagen. Und zwar auf Basis der Ampel-Vorschläge.
Eine umfassende Reform des Notfall- und Rettungsdienstes würde aus Sicht von Gesundheitspolitiker Dahmen nicht nur die Versorgung verbessern, sondern könnte auch eine Menge Geld sparen. In keinem Bereich des Gesundheitswesens seien die Kosten zuletzt so stark gestiegen. "Dann ließe sich bis zu drei Milliarden Euro pro Jahr sparen." Ein Riesenbeitrag, der an anderer Stelle dringend benötigt werde, sagt er.