
Minderheit in Ostdeutschland Wer spricht noch Sorbisch?
Eine Studie der Universität Leipzig sorgt für Aufregung unter der Minderheit der Sorben. Demnach gibt es nur noch zwischen 50 und 100 Menschen in Deutschland, die halbwegs gut niedersorbisch sprechen.
Die Welt der Sorben ist klein. Im Grunde kennt jeder, der sich beruflich mit Sprache oder Kultur des westslawischen Volkes befasst, alle anderen relevanten Akteure. Das gilt insbesondere in der Wissenschaft. Einen Lehrstuhl für Sorbisch gibt es, an der Universität Leipzig. Dazu noch einige wissenschaftliche Mitarbeiter sowie Sprachwissenschaftler, Ethnologen und Historiker, die sich regelmäßig mit Sorabistik - so heißt der Studiengang - befassen.
Sorben kennen viele Menschen, wenn überhaupt, vor allem durch farbenfrohe Bilder von Trachtenumzügen und dem Brauch, Ostereier auf spezielle Art zu verzieren. Hin und wieder schafft es auch einmal eine Wortmeldung eines Vertreters sorbischer Menschen in die Medien.
Sorben sind in Deutschland anerkannte Minderheit, ihre offiziell bescheinigten Siedlungsgebiete liegen ausschließlich in Brandenburg und Sachsen. In diese für Außenstehende oft beschaulich anmutende Welt platzte kürzlich ein wissenschaftlicher Aufsatz.

Der Mehrheit ist die sorbische Minderheit vor allem im Zusammenhang mit Trachten und dem Osterfest bekannt, wie diese Frauen in traditioneller Kleidung, die sich 2022 am frühen Ostersonntag zum Singen vor einer Kirche in Schleife, Sachsen, trafen.
Verschwindend wenige Sprecher
Auch der Titel der Studie lässt erahnen, wie exquisit der Zirkel derer ist, die sich mit Sorbisch befassen: "Kak wjele kompetentnych powědarjow dolno-serbšćiny jo w lěśe 2024?" steht über dem zehnseitigen Papier. Eine deutsche Übersetzung soll es erst in den kommenden Tagen geben. Der deutsche Titel dürfte dann in etwa lauten: "Wie viele kompetente Sprecher des Niedersorbischen gibt es im Jahr 2024?"
Eine Frage, die es in sich hat - zumindest im Kreis der engagierten Sorben. Die Antwort, die die Autoren Till Vogt (sorbischer Name: Till Wojto) und Sabine Asmus von der Universität Leipzig geben: 50 bis 100 Menschen beherrschen die niedersorbische Sprache noch auf "kompetentem" Niveau.
Das sind verschwindend wenige für eine Sprache, die ohnehin vom Aussterben bedroht ist. Niedersorbisch wird vor allem in Brandenburg gesprochen, im sächsischen Siedlungsgebiet hingegen Obersorbisch. Auch dort gilt die Sprache als bedroht - aber weniger dramatisch als das Niedersorbische.

Kritik an Methodik
Umgehend nach Veröffentlichung der Zahlen meldeten sich Kritiker zu Wort. Ein Argument: Die Studie habe die Definition von "kompetent niedersorbisch sprechenden" Menschen viel zu eng gefasst. Einer der Kritiker: Meto Nowak. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Verein Sorbisches Institut in Cottbus. Nowak argumentiert: Auch deutsche Muttersprachler beherrschten nicht "alle Formen der deutschen Sprache perfekt".
Studienautor Till Vogt widerspricht: Die Studie habe gar nicht nach perfekt sprechenden niedersorbischen Sprechern gesucht. Überprüft wurde lediglich, ob die Niveaus C1 und C2 gemäß dem europäischen Referenzrahmens für Fremdsprachen erreicht wurden. "C1 ist das Niveau, das von einem Abiturienten beispielsweise in Englisch erwartet wird." Niedersorbisch als gut beherrschte Fremdsprache also.
Die Kritik war laut den Autoren absehbar. Vogt sagt nüchtern: "Das ist nicht unerwartet." Auch in der Vergangenheit seien Studien kritisiert worden, deren Ergebnisse eher niedrige Zahlen hervorbrachten. Dadurch sei eine Forschungslücke entstanden, die Vogt zufolge Raum für unseriöse Schätzungen ließ. "Zum Beispiel gibt es Angaben im Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen. Da sind irrationale Zahlen aus dem letzten Jahrhundert drin."
Zahlen als Tabu
Seine Co-Autorin Sabine Asmus ergänzt: "Zahlen sind in der innersorbischen Diskussion immer ein Tabu. Weil es Befürchtungen gibt, dass dann Gelder gekürzt werden." Denn die Minderheit der Sorben wird mit Steuergeldern gefördert, vom Bund sowie von den Ländern Brandenburg und Sachsen. Allein die Stiftung für das sorbische Volk erhält mehr als 20 Millionen Euro jährlich.
Ohne die öffentlichen Mittel stünden Sprachunterricht, aber auch die Unterstützung für Brauchtumspflege in Frage. In der Verteilung der Mittel sehen die Autoren eine Ursache für das Ergebnis der Studie - die geringe Zahl der kompetent Niedersorbisch sprechenden Menschen.
Vogt sagt: "Ein Großteil der Aufwendungen werden für das Nationalensemble aufgewendet, also für Folklore - nicht für Sprache." Dabei sei der Sprachunterricht quasi die letzte Instanz, die die Sprache überhaupt noch am Leben erhalte. "Die traditionellen Sprecher sind fast alle tot", fährt Vogt fort. "Die intergenerationelle Sprachvermittlung wurde im Wesentlichen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingestellt."
Sorbe ist, wer es sein will
Häufig sei das Bild der lebendigen Minderheit zu positiv, die Zahlen zu hoch gegriffen. In Brandenburg, also dort, wo der niedersorbische Dialekt beheimatet ist, zählt als Teil des sorbischen Volkes, "wer sich zu ihm bekennt". So steht es im Gesetz. Eine irgendwie geartete Überprüfung findet nicht statt. Vogt erläutert: "Wir haben Menschen, die sich als Sorben identifizieren. Sprache gehört aber nicht notwendigerweise dazu."
Asmus teilt die ernüchternde Analyse ihres Kollegen: "Mit der Sprache verlieren wir Kultur. In Sprache sind Sichtweisen auf die Welt codifiziert. Das kann man mit Folklore nicht erhalten."
Den Autoren geht es nicht darum, die Sprache für tot zu erklären. Sie wollten stattdessen eine realistische Bestandsaufnahme liefern - als Hilfsmittel zur Rettung des niedersorbischen Dialekts.
Asmus umschreibt es so: "Wenn ich eine Sprache erhalten möchte, muss ich doch wissen, wie es ihr geht." Das sei ähnlich wie bei einem alten Haus. Da müsse man auch gucken, wie die Statik ist, sonst breche nach dem Dachaufbau alles zusammen.
Die bei vielen in der sorbischen Szene ablehnende Reaktion auf die Studie sei nicht hilfreich - und eben leider auch nicht überraschend. Bereits im Jahr 2017 habe eine Studie gezeigt, dass in der Primarstufe weder Schüler noch Lehrer die Sprache richtig beherrschen würden, so Vogt. "Die Studie wurde empört zur Kenntnis genommen und verschwand in der Schublade."
Umkehr noch möglich?
Asmus hat noch eine weitere Erklärung dafür, warum eine inhaltliche Beschäftigung mit Studien dieser Art lieber nicht erfolgt. Sie sagt: "Je kleiner die Sprecherzahl einer Sprache, desto schärfer die Auseinandersetzungen." Das hieße womöglich, dass das Tabu noch fester stünde - wenn die Zahl der Sprecher weiter abnimmt. Asmus will sich damit nicht zufrieden geben: "Wir möchten das umkehren. Es ist möglich."
Auch andere Sprachen seien schon gerettet worden. Hebräisch etwa, oder einige Sprachen amerikanischer Ureinwohner. Vielleicht wird die Arbeit von Vogt und Asmus doch noch breiter diskutiert - nachdem sie auch auf Deutsch zu lesen ist. Eine Übersetzung sei noch in diesem Monat geplant, so die Autoren.
Mit Material von Anke Blumenthal und Phillipp Manske, rbb