
Milliardendefizit "Der Pflege steht das Wasser bis zum Hals"
Die Pflegeversicherung steckt in der Krise. Im vergangenen Jahr haben die Kassen ein Minus von mehr als 1,5 Milliarden Euro gemacht. Entsprechende Zahlen der GKV liegen dem ARD-Hauptstadtstudio exklusiv vor.
Viele Versicherte hatten zu Beginn des Jahres Post von ihren Krankenkassen im Briefkasten. Diese haben die Zusatzbeiträge ordentlich erhöht. Doch nicht nur die Krankenkassen haben ein finanzielles Problem in Milliardenhöhe. Auch die Pflegekassen geraten immer weiter in die roten Zahlen. Die Ausgaben steigen, weil die Kassen immer mehr ältere Menschen versorgen müssen. Die Einnahmen können damit nicht Schritt halten.
Nachdem die Ampel-Regierung zerplatzt ist, hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit einer Notverordnung versucht, das Finanzproblem der klammen Pflegekassen zumindest kurzfristig zu lösen. Abermals musste der Minister in seiner Amtszeit die Beitragssätze für die Pflegeversicherung anheben, diesmal um 0,2 Prozentpunkte. Lauterbach beteuerte: Das reiche, um die Pflegekassen gut durch das Jahr 2025 zu bringen.
Defizit von 1,54 Milliarden Euro im vergangenen Jahr
Doch einzelne Kassen hatten in den vergangenen Monaten immer wieder gewarnt: Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht weiter auseinander. Das bestätigen nun die Zahlen des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die dem ARD-Hauptstadtstudio exklusiv vorliegen. Demnach spitzt sich die finanzielle Situation in der Pflege weiter zu.
Das letzte Jahr hat die Pflegeversicherung mit einem Defizit in Höhe von 1,54 Milliarden Euro abgeschlossen. Für dieses Jahr erwartet die GKV, trotz der kürzlichen Beitragserhöhung, ein Defizit von rund einer halben Milliarde Euro. Zahlen, die die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, beunruhigen. Sie sagte dem ARD-Hauptstadtstudio: "Der Pflege steht das Wasser bis zum Hals. Und der Pegel steigt."
Pfeiffer ist überzeugt, dass noch weitere Pflegekassen kurzfristig auf finanzielle Hilfe angewiesen sein werden. "Wir haben noch drei Viertel des Jahres vor uns und die Finanzentwicklung in der Pflege ist besorgniserregend."
Erste Pflegekasse musste Hilfe beantragen
Die Pflegeversicherung steckt in der Krise. Erstmals seit der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung musste kürzlich eine Pflegekasse Finanzhilfen beantragen, um eine Pleite abzuwenden. Die Kasse bekommt inzwischen Zuschüsse des zuständigen Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS). Das Geld kommt aus einem Ausgleichsfonds, eine Art Reserve, auf die im Notfall zurückgegriffen werden kann.
Doch dieser Geldtopf wird immer kleiner. Anfang 2024 waren noch Mittel in Höhe von rund 1,8 Milliarden Euro vorhanden, Ende 2024 sind die Mittel auf rund eine Milliarde Euro zusammengeschrumpft.
GKV-Chefin Pfeiffer warnt: "Langsam läuft der Ausgleichsfonds leer. Ohne zusätzliche Finanzmittel wird der Pflege-Ausgleichfonds in wenigen Monaten ausgeschöpft sein."
Weiteren Kassen droht eine finanzielle Schieflage
Auch beim BAS ist man alarmiert. Die Prognose geht weiter nach unten. Das Bundesamt geht davon aus, dass die Mittel des Ausgleichsfonds bis Ende April auf rund 300 Millionen Euro zusammenschrumpfen könnten. Solche geringen Zahlen haben sie bisher noch nicht erlebt. BAS-Präsident Frank Plate befürchtet, dass weitere Kassen finanzielle Probleme bekommen und das BAS immer mehr Pflegekassen unterstützen muss. Deswegen erwartet er, dass die Politik schnell dafür sorgt, das System zu stabilisieren. "Es geht darum, einen drohenden Dominoeffekt zu vermeiden."
Das Problem: Wenn die Reserven im Ausgleichsfonds weiter schrumpfen, um klamme Kassen zu stützen, müssen noch solide Pflegekassen mehr von ihren Einnahmen dort einzahlen. Das könnte auch sie langfristig in Bedrängnis bringen.
Auf die nächste Regierung wartet eine große Aufgabe. Sie wird auf jeden Fall vermeiden wollen, dass Pflegebedürftige kein Geld mehr bekommen, weil Pflegekassen pleite sind und Pflegeheimen das Geld ausgeht. Union und SPD verhandeln zurzeit über eine Koalition. In ihrem Sondierungspapier haben sie bisher lediglich festgehalten: "Wir wollen ein große Pflegereform auf den Weg bringen." Daran sind die vergangenen Regierungen gescheitert.
Schon jetzt zeichnet sich also ab: Die Pflegekassen brauchen schnell Hilfe. Sie haben keine Zeit, bis eine neue Regierung eine große Reform auf den Weg bringen könnte.
Wie lange wird der Ausgleichsfonds funktionieren?
Der GKV-Spitzenverband fordert von der nächsten Regierung, dass sie sowohl Sofortmaßnahmen auf den Weg bringt, um die Finanzen kurzfristig zu stabilisieren als auch eine umfangreiche Pflegereform. Die GKV-Vorsitzende Pfeiffer schätzt die Lage zwar insgesamt als kritisch ein, kurzfristig kann sie Pflegebedürftige und ihre Angehörigen aber beruhigen. Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es keinen Grund, sich Sorgen zu machen, dass Leistungen nicht gewährt werden könnten. "Auch den Pflegediensten und Pflegeeinrichtungen werden ihre Leistungen bezahlt", sagt Pfeiffer.
Noch funktioniert also der Mechanismus über den Ausgleichsfonds. Die Frage ist, wie lange noch? Der Politik bleiben am Ende wohl zwei Möglichkeiten: Erneute Beitragserhöhungen - eine unbeliebte Maßnahme, die eine neue Regierung wohl nicht als erstes verkünden will - oder mehr Unterstützung für die Pflegekassen aus dem regulären Haushalt, also mehr Steuermittel für die Kassen.