Wahlfahnen von Kemal Kilicdaroglu und Recep Tayyip Erdogan wehen an einer Straße in Ankara.
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Präsidentenwahl in der Türkei Falsche Videos und die Macht der Medien

Stand: 28.05.2023 09:10 Uhr

Zur Präsidentenwahl in der Türkei sind im Netz zahlreiche Falschmeldungen über die Kandidaten zu finden. Doch laut Experten ist deren Einfluss eher gering - denn Desinformation sei seit Jahren allgegenwärtig.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Vor den Wahlen in der Türkei sorgte ein Video für viel Aufmerksamkeit. Zu sehen ist Kemal Kilicdaroglu, Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Das Brisante: In dem Video sagt Kilicdaroglu zu dem Mitbegründer der von der EU und den USA als terroristische Vereinigung eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Murat Karayilan: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen." Doch das Video ist ein Fake.

Dennoch zeigte es sogar Erdogan auf einer Wahlveranstaltung vor der Präsidentenwahl Mitte Mai und sagte dazu: "Würden meine nationalen und lokalen Bürger für die hier stimmen?" Erst später räumte Erdogan ein, dass es sich bei dem Video um eine Montage handelte. Kilicdaroglu verklagte Erdogan daraufhin wegen der Ausstrahlung des Videos.

Desinformation im Netz sehr verbreitet

Im Internet kursieren mehrere falsche Videos und Bilder im Zusammenhang mit der Wahl. Bereits kurz vor der ersten Wahlrunde hatte der Politiker Muharrem Ince seine Kandidatur mit der Begründung zurückgezogen, dass unter anderem gefälschte Sexfotos und -videos von ihm verbreitet worden seien.

Zudem gibt es manipulierte Bilder von Wahlplakaten, die die Partei von Kilicdaroglu in die Nähe der kurdischen Miliz YPG rücken. Ein Narrativ, das von Anhängern und Mitgliedern von Erdogans Regierungspartei AKP gerne verbreitet wird, sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung. "Patriotismus und Nationalismus sind Narrative, die Erdogan und seine Partei bedient. Der Opposition wirft er ständig vor, die PKK und somit antitürkische Kräfte zu unterstützen."

Dass in der Türkei die sozialen Netzwerke sehr stark genutzt werden, um Desinformation zu verbreiten, zeigt auch eine Untersuchung der technischen Hochschule EPFL aus dem Jahr 2021. Demnach waren fast die Hälfte der lokalen Twitter-Trends in der Türkei gefälscht, laut den Studienautoren ein "bisher unbekanntes Ausmaß an Manipulation" und höher als in jedem anderen untersuchten Land.

Dabei hatte Twitter bereits im Jahr 2020 mehr als 7000 Konten gesperrt, die nach Angaben des Unternehmens gezielt genutzt wurden, um "politische Narrative zugunsten der AKP zu verstärken und eine starke Unterstützung für Präsident Erdogan zu demonstrieren". Bei den Konten habe es sich um ein Netzwerk gehandelt, das mit dem Jugendflügel der AKP verbunden gewesen sei, teilte Twitter mit.

Auch Opposition verbreitet Desinformation

Doch auch von Seiten der Opposition wurde im Wahlkampf Desinformation verbreitet. So hatte Kilicdaroglu vor der Stichwahl behauptet, Erdogan habe zehn Millionen Flüchtlinge ins Land geholt - dabei leben in der Türkei nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) nur insgesamt vier Millionen Geflüchtete.

Des Weiteren wurde in oppositionellen Kreisen die These aufgestellt, die Regierung wolle den insgesamt 3,6 Millionen geflüchteten Syrern möglichst schnell türkische Pässe ausstellen, um sie als Wähler zu gewinnen. Die Parteien CHP und HDP sprachen in dem Zusammenhang gar von einer "weiteren Arabisierung und Islamisierung der Türkei".

"Das ist auf so vielen Ebenen falsch", sagt Rashad Ali vom Institute for Strategic Dialogue (ISD). "Zum einen besitzen nur wenige der geflüchteten Syrer einen türkischen Pass. Zum anderen fördert dieses Narrativ auch Hass gegenüber Syrern und brandmarkt sie als Islamisten." Schätzungen zufolge wurden etwa lediglich 200.000 bis 300.000 Syrer in den vergangenen Jahren eingebürgert.

"Arm des Staats reicht bis ins Schlafzimmer"

Insgesamt schätzt Ali den Einfluss von Desinformation im Wahlkampf mit Blick auf den Wahlausgang jedoch als eher gering ein. "Ich glaube, viele der Videos und Bilder haben mehr Menschen im Ausland erreicht als in der Türkei selbst. Ihr Einfluss auf die Wahl wird meiner Einschätzung nach übertrieben." Denn Erdogan und die AKP hätten bereits seit Jahren ihre Narrative aufgebaut und verbreitet. Gezielte Desinformation rund um die Wahl habe es daher schlichtweg nicht gebraucht, sagt Ali. "Seit langer Zeit wird die Bevölkerung tröpchenweise mit bestimmten Narrativen berieselt. Das verfestigt sich irgendwann in den Köpfen."

Eine große Rolle spiele dabei, dass Erdogan nahezu alle reichweitenstarken Medien im Land auf seine Linien gebracht habe - nach Angaben der Menschenrechtsorganisationen Article 19 und Human Rights Watch (HRW) sind 90 Prozent der landesweiten traditionellen türkischen Medien eng mit der Regierung verbunden und berichten "unverhältnismäßig stark über Präsident Erdogan und die Kampagne der Regierungspartei".

"Der Arm des Staates reicht quasi bis ins Schlafzimmer", sagt Ulusoy. "In den meisten Medien findet nie eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik Erdogans statt, sondern man wird berieselt von morgens bis abends." Zwar würden auch Gegner Erdogans oftmals in solch einer Blase leben, allerdings hätten regierungskritische Medien eine deutlich niedrigere Reichweite.

Pressefreiheit stark eingeschränkt

In der Rangliste der Pressefreiheit liegt die Türkei nur auf Platz 165 von 180. Besonders seit der Niederschlagung des Putschversuchs im Jahr 2016 gehen Regierung und Justiz nach Angaben von Reporter ohne Grenzen "härter denn je" gegen kritische Journalisten vor: "Die einst pluralistische Medienlandschaft steht inzwischen fast vollständig unter Kontrolle der Regierung oder regierungsnaher Geschäftsleute."

Das führte dazu, dass Erdogan medial deutlich präsenter war als seine Konkurrenten. Beim öffentlich-rechtlichen Sender Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu (TRT) wurden Erdogan im Monat vor der Wahl Mitte Mai gute 48 Stunden Sendezeit gewidmet, Kilicdaroglu lediglich 32 Minuten. Ein ähnliches Bild gab es bereits vor der Präsidentenwahl 2018: Auch damals erhielten Mitglieder der Regierungsparteien deutlich mehr Sendezeit als die der Oppositionsparteien.

Passend dazu kursiert ein Screenshot eines anderen regierungsnahen Senders, A Haber, auf Twitter, in dem als Optionen bei der Stichwahl zum einen Erdogan zu sehen ist und statt Kilicdaroglu lediglich von einem "anderen Kandidaten" die Rede ist.

"Willkürliche Sperrung von Websites"

Nicht nur die Medien stehen unter starker Kontrolle der Regierung. Auch für das Internet wurde nach Angaben von HRW ein "zunehmend restriktiver Rechtsrahmen" eingeführt, "der die willkürliche Sperrung und Entfernung von Websites und anderen Online-Inhalten erlaubt". Nach den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 stellte die Regierung zudem Berichten zufolge ein 6000-köpfiges Social-Media-Team ein, um Online-Kritikern entgegenzutreten.

So wurden laut HRW in den vergangenen neun Jahren Tausende von Journalisten, politischen Gegnern und anderen Menschen strafrechtlich verfolgt, weil sie den Präsidenten und die Regierung im Internet kritisiert oder auch nur kritische Artikel in den sozialen Medien geteilt oder geliked hatten.

Zudem sperrte die Regierung zahlreiche Websites im Netz und schränkte beispielsweise nach dem verheerenden Erdbeben im Februar den Zugang zu sozialen Netzwerken wie Twitter vorübergehend ein.

Weitere Repressionen durch "Desinformationsgesetz"

Einen weiteren Schritt in Richtung Zensur im Internet ging die Regierung Ulusoy zufolge mit dem sogenannten "Desinformationsgesetz", das im Oktober vergangenen Jahres verabschiedet wurde. Es sieht Haftstrafen für die Verbreitung "falscher oder irreführender Nachrichten" vor. Bis zu drei Jahren Haft drohen für "Falschinformationen" - egal, ob sie von Journalisten oder einfachen Nutzern sozialer Medien kommen. 

"In der Praxis läuft es darauf hinaus, dass nur angebliche Falschmeldungen verfolgt werden, die die Regierung betreffen", sagt Ulusoy. "Es geht nicht um das Thema Desinformation als generelles Problem, sondern um unliebsame Informationen oder Kampagnen, die die Regierung als gefährlich erachtet." Das führe dazu, dass Regierungskritiker sich selbst zensieren würden, aus Angst vor einer Strafverfolgung - ähnlich wie nach den Verhaftungen nach dem Putschversuch.

Der Erste, der wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das "Desinformationsgesetz" angeklagt wurde, war im Übrigen Kilicdaroglu.

Türkische Medien in vielen Ländern verbreitet

Auch für das Ausland haben Erdogan und die AKP bereits seit Jahren populäre Narrative für das entsprechende Publikum verbreitet, sagt Ali. Eine wichtige Rolle spielt dabei der öffentlich-rechtliche Sender TRT. TRT steht spätestens seit dem Putschversuch und den anschließenden Repressionen gegen Regierungsgegnern in der Kritik, staatsnah zu berichten.

Neben Sendern für die türkische Diaspora betreibt TRT auch Nachrichtenportale in mehr als 40 Sprachen - seit Anfang 2020 auch auf deutsch. Auch hier vermuten Experten wie Ulusoy eine politische Agenda, denn Kritik an Erdogan oder der AKP sei trotz zahlreicher Artikel über sie nicht zu finden. Die Opposition hingegen findet deutlich seltener statt: Zu Erdogans Konkurrenten Kilicdaroglu werden einem bei der Suchoption auf der Seite lediglich vier Artikel angezeigt (Stand 26. Mai).

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 28. Mai 2023 um 09:00 Uhr.