
Falsche Tatsachenbehauptungen Meinungsfreiheit durch Koalitionsvertrag gefährdet?
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sorgt im Netz für Warnungen vor einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Besonders ein Abschnitt sei Grund zur Sorge - dabei ist es dafür noch zu früh, so ein Verfassungsrechtler.
Debatten um den Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland sind nicht neu. Erst im Februar sorgte US-Vizepräsident JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz für Irritationen, als er behauptete, die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik sei eingeschränkt.
Ein Absatz im Koalitionsvertrag löst jetzt im Netz neue Sorge über das Recht auf freie Meinungsäußerung aus. "Die künftige schwarz-rote Koalition achtet die Freiheit nicht", heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung. Dem Magazin Cicero zufolge "fremdelt" die mögliche neue Regierung mit dem "mündigen Bürger" und in der Welt wird vor einer "Art Wahrheitsgesetz" gewarnt.
Formulierung im Koalitionsvertrag sorgt für Kritik
Konkret geht es bei dieser Kritik um eine Passage im Anfang April vorgestellten Koalitionsvertrag von Union und SPD. Darin heißt es, dass die "bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen" durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt sei.
Deshalb müsse "die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können." Kritiker sehen in diesen Maßnahmen einen Versuch, den Ausdruck von Meinungen einzuschränken.
Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2011 sind Meinungen nach dem Artikel 5 des Grundgesetzes unabhängig davon geschützt, "ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden."
Verleumdung, Beleidigung, Üble Nachrede
Tatsächlich ist die im Koalitionsvertrag festgehaltene Aussage aber nicht neu. Schon 2012 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass "die erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptung nicht vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst wird."
Wer bewusst lügt, macht sich auch jetzt schon teilweise strafbar - etwa, wenn es sich dabei um eine beleidigende oder verleumderische Aussage handelt. Einzelpersonen, die entsprechende falsche Behauptungen machen, können unter anderem wegen Verleumdung, Beleidigung oder Übler Nachrede juristisch belangt werden.
Wie Medien Informationen verbreiten, wird wiederum von der im Koalitionsvertrag erwähnten "staatsfernen Medienaufsicht" geprüft. Dazu zählen die Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der Presserat und die Landesmedienanstalten. Bei ihnen können Nutzer Beschwerden einreichen, wenn sie eine falsche Berichterstattung vermuten.
"Es geht nicht um ein Wahrheitsministerium"
Einzelne Aussagen von Privatpersonen seien von dieser Aufsicht nicht betroffen, erklärt die Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten, Eva Flecken, im Gespräch mit tagesschau.de. Wer journalistisch arbeitet, könne beim Verdacht auf falsche Informationen überprüft werden.
Dabei werde aber nicht die inhaltliche Aussage als wahr oder falsch bewertet. Stattdessen werde geprüft, ob journalistisch sorgfältig gearbeitet wurde. "Es geht gar nicht um eine Inhaltepolizei oder ein Wahrheitsministerium, sondern darum, ob in journalistischer Hinsicht sauber gearbeitet worden ist", sagt Flecken. Denn wer sich den Mantel des Journalisten umwerfe, dem werde natürlich eine besondere Glaubwürdigkeit entgegengebracht.
Auch gegen "Hass und Hetze" gehe die Medienaufsicht bereits jetzt vor, erklärt Flecken. Das geschehe auf Grundlage des Jugendmedienschutz- und Menschenwürdestaatsvertrags. Demzufolge sind Angebote unzulässig, die "zum Hass gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln".
Im Zweifel für die Meinungsfreiheit
Angebote, die Hass oder falsche Tatsachenbehauptungen enthalten, werden von der Medienaufsicht - je nach Schweregrad - beanstandet oder untersagt. "Wenn sich jemand systematisch konsequent rechtswidrig verhält, könnten die Medienanstalten als Ultima Ratio auch ganze Angebote oder Kanäle untersagen", so Flecken.
Das sei aber immer erst der letzte Schritt, weil im Zweifel immer für die Medienfreiheit entschieden werde. "Wenn es ein Zweifelsfall ist, dann sagen wir immer, das müssen wir als Gesellschaft aushalten und aushandeln."
Desinformation "stärker in den Blick nehmen"
Beschreibt der Koalitionsvertrag also im Bezug auf die Meinungsfreiheit einfach nur den Ist-Zustand? Nicht ganz, sagt Christiane Schenderlein, Mitglied im Ausschuss für Kultur und Medien und Sprecherin der entsprechenden CDU/CSU-Arbeitsgruppe, im Gespräch mit tagesschau.de.
"Damit sind insbesondere Informationen gemeint, die bewusst falsch in den Raum gebracht werden, die irreführend sind und vorrangig das Ziel verfolgen, eine Destabilisierung der Gesellschaft oder des politischen Systems zu erreichen", sagt die CDU-Abgeordnete. In Zeiten, in denen durch Desinformation Wahlen manipuliert würden, müsste die Politik das "durchaus stärker in den Blick nehmen".
Verbot von Bots und Fake Accounts geplant
Dafür wolle die Union mit der SPD vor allem die Medienaufsicht stärken. Außerdem findet sich im Koalitionsvertrag die Absicht, "systematisch eingesetzte manipulative Verbreitungstechniken" wie "der koordinierte Einsatz von Bots und Fake Accounts" zu verbieten.
Ob darüber hinaus neue gesetzliche Vorgaben für die Medienaufsicht folgen sollen, ist noch offen, so Schenderlein. "Aber ich denke, dass man im Hinblick auf das Thema Desinformation und Fake News durchaus noch mal überprüfen muss, ob die vorhandenen Instrumente hierzu ausreichend sind." Das müsse dann in Abstimmung mit den Ländern und der europäischen Ebene passieren.
SPD: Mehr Schutz vor Desinformationskampagnen
Die SPD erklärt auf Anfrage, der Koalitionsvertrag wiederhole "geltende Rechtslage". Gezielte Desinformation sei keine Meinung und "genießt keinen Schutz durch die Meinungsfreiheit", so SPD-Sprecher Florian Schurig.
Die SPD betont ebenfalls, man wolle "Mechanismen gegen gezielte Desinformation, Hass- und Hetzkampagnen schaffen, die der staatsfernen Medienaufsicht zur Verfügung stehen". So sollen Betroffene von Desinformationskampagnen in Zukunft nicht mehr allein gegen diese vorgehen müssen.
"Letztlich ist es immer Abwägung"
Erst, wenn diese möglichen neuen Mechanismen oder gesetzliche Vorgaben im Detail feststehen, könnte man kritisch prüfen, inwiefern sie die Meinungsfreiheit betreffen könnten, sagt Uwe Volkmann. Der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt macht aber auch deutlich, dass sich das Rechtsverständnis stetig wandele.
"Letztlich ist es immer eine Abwägung und da können sich die Grenzen im Laufe der Zeit auch mal ein Stück verschieben", so Volkmann. In der aktuellen Formulierung des Koalitionsvertrags sieht er aber keinerlei Gefahr für eine Einschränkung der Grundrechte.
Genau das Gegenteil sei das Ziel der Vorschläge im Koalitionsvertrag, sagt Christiane Schenderlein. "Es geht nicht darum, unliebsame Meinungen zu degradieren oder einzuschränken. Ganz im Gegenteil. Wir brauchen die Vielseitigkeit von Meinungen und den Austausch dazu."