Eine Sonderausgabe von Charlie Hebdo an einem Zeitschriftenstand.
interview

Charlie-Hebdo-Anschlag "Man muss für die Meinungsfreiheit kämpfen"

Stand: 07.01.2025 00:02 Uhr

Laurent Sourisseau, alias Riss, überlebte vor zehn Jahren den islamistischen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Auch heute sieht er die Meinungsfreiheit in Gefahr - vor allem, wenn man sie für selbstverständlich halte.

tagesschau.de: Vielleicht erstmal die ganz banale Frage: Wie geht es Ihnen heute, zehn Jahre nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo?

Riss: Der Anschlag ist Teil meines Lebens geworden. Man wird diese Erinnerung nicht mehr los. Aber ich habe mir auch gesagt: Das darf mich nicht darin hindern weiterzuleben. Mein Leben ist nicht zu Ende - obwohl das eigentlich so vorgesehen war an diesem Tag.

tagesschau.de: Wie haben Sie es damals geschafft zu überleben?

Riss: Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder. Als die Attentäter in die Redaktion stürmten, habe ich mich auf den Boden geworfen und mich nicht mehr bewegt. Mehr konnte ich nicht machen.

Ich habe trotzdem eine Kugel abbekommen. Hätte die mich nur leicht anders getroffen, wäre sie tödlich gewesen. Vermutlich war es einfach Zufall.

Laurent Sourisseau
Zur Person
Riss, der mit bürgerlichem Namen Laurent Sourisseau heißt, ist Karikaturist. Er überlebte verletzt den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo und baute das Satiremagazin nach der Ermordung des Großteils seines Teams wieder auf. Heute ist Riss Herausgeber und Hauptanteilseigner von Charlie Hebdo.

"Anfangs war die Redaktion total instabil"

tagesschau.de: Das Magazin Charlie Hebdo gibt es weiterhin. Wie schwer war es, die Redaktion wieder aufzubauen?

Riss: Anfangs war die Redaktion total instabil - wir brauchten neue Zeichner, neue Redakteure. Teilweise mussten wir sie erst ausbilden und ihnen zeigen, was unsere Art von Satire ist. Heute haben wir aber wieder eine solide Redaktion, die ganz genau weiß, wie man Charlie Hebdo macht.

tagesschau.de: Sie haben nach wie vor Polizeischutz. Die Adresse der Redaktion ist aus Sicherheitsgründen streng geheim. Hatten die neuen Redakteure keine Angst, dass sich so ein Anschlag wiederholen könnte?

Riss: Die jungen Leute haben den Optimismus der Jugend. Sie sind keine Gefangenen der Vergangenheit, sondern schauen positiv in die Zukunft.

"Wer uns nicht regelmäßig liest, versteht den Humor nicht"

tagesschau.de: Seit einigen Jahren gehen Sie auch an Schulen und Universitäten und sprechen dort über ihre Arbeit. Warum?

Riss: Viele kennen Charlie Hebdo gar nicht, sie haben das Magazin nie gelesen. Deshalb ist es wichtig, dass wir in den Dialog gehen. Sonst bekommen die jungen Leute zum Beispiel über die sozialen Medien ein ganz falsches, verkürztes Bild von uns.

Wenn man uns nicht regelmäßig liest, versteht man auch den Humor nicht. Wenn wir gemeinsam diskutieren, bekommen die Schüler ein vollständigeres Bild von Satire.

tagesschau.de: Erst im Dezember ist das Urteil rund um den französischen Lehrer Samuel Paty gefallen. Er wurde getötet, weil er in seinem Unterricht die Mohammed-Karikaturen gezeigt hat, die auch Charlie Hebdo veröffentlicht hat. Wie blicken Sie auf diesen Fall?

Riss: Es zeigt für mich, dass der Islamismus eine Ideologie ist, mit viel Propaganda auch in den sozialen Medien. Die Leute glauben dann irgendwann wirklich, dass es legitim sei, Gewalt anzuwenden, weil sie der Propaganda glauben. Erst sind es Worte, dann sind es Taten, mit all den Konsequenzen.

"Wir müssen als Gesellschaft für Meinungsfreiheit einstehen"

tagesschau.de: Was wünschen Sie sich von der Politik?

Riss: Die Politik kann den juristischen Rahmen für Meinungsfreiheit vorgeben. Aber wir alle müssen als Gesellschaft für Meinungsfreiheit einstehen. Wenn man glaubt, sie sei selbstverständlich, dann ist sie schon in Gefahr.

Und dann wacht man irgendwann auf und stellt fest, dass man sich nicht mehr traut, dieses oder jenes zu sagen. Man muss für die Meinungsfreiheit kämpfen, und dieser Kampf ist nie vorbei.

tagesschau.de: Sie haben jetzt zum Jahrestag ein Buch mit dem Titel "Charlie Liberté" herausgebracht. Darin zeigen Sie Karikaturen der verstorbenen Zeichnerinnen und Zeichner. Warum war Ihnen das wichtig?

Riss: Ich wollte nicht, dass der Jahrestag zu traurig wird. Im Gegenteil: Ich habe das gemacht, um auch ein Stück Optimismus zu verbreiten.

Die Verstorbenen werden immer ein Teil der Redaktion bleiben. Sie fehlen - all ihre Ideen, ihre Kreativität. Aber sie sind nicht nur Opfer, sondern in erster Linie Künstler. Das wollte ich würdigen und zeigen.

Das Gespräch führte Franziska Fiedler, ARD Paris