Machtwechsel in Großbritannien "Sehnsucht nach einem ruhigeren Regierungschef"
Den Wählern in Großbritannien ging es vor allem darum, die Tories für eine desaströse Bilanz ihrer Regierungszeit abzustrafen, sagt der Politik-Experte Marius Guderjan. Aber aus dem Ergebnis spricht auch der Wunsch nach einem anderen Politikstil.
tagesschau.de: Das britische Mehrheitswahlrecht erleichtert deutliche Siege und Niederlagen. Wie ist dieser Wahlausgang im historischen Vergleich einzuordnen?
Marius Guderjan: In den britischen und deutschen Medien wird für das Wahlergebnis heute der Begriff "historisch" verwendet, und in der Tat ist die Niederlage der Tories ungewöhnlich deutlich. Es gab in der britischen Geschichte nicht viele Niederlagen, die für die konservative Partei so herbe waren - und gleichzeitig gab es auch selten so deutliche Siege für Labour. Für sie löst das ein totales Hochgefühl aus, und für die Tories ist das eine absolute Katastrophe.
"Wähler hatten genug von populistischen Politikern"
tagesschau.de: War das seitens der Wähler eine Entscheidung pro Labour mit Aufbruchstimmung oder eine Entscheidung gegen die bislang regierenden Tories?
Guderjan: Laut Umfragen ging es vielen Wählern darum, erst einmal die konservative Partei loszuwerden, sie für die desaströse Bilanz der vergangenen 14 Jahre abzustrafen und einen Regierungswechsel herbeizuführen. Aber es gab sicher auch Gründe, warum Labour Wähler zurückgewinnen konnte.
Ein Grund dürfte sein, dass man sich nach populistischen Persönlichkeiten wie Boris Johnson oder auch Liz Truss, die vielleicht unterhaltsam, aber wenig seriös sind, nach einem eher ruhigeren, dafür aber kompetenten Regierungschef sehnte.
"Begrenzte Möglichkeiten für einen wirklichen Aufbruch"
tagesschau.de: Was wird sich unter Labour ändern, welche Reparaturmaßnahmen wird die neue Regierung in Angriff nehmen?
Guderjan: Die Möglichkeiten für einen wirklichen Aufbruch, für "Change", sind begrenzt, auch wenn Labour genau diesen Slogan benutzt hat. Aber für die Wählerinnen und Wähler kann "Change" ja auch einfach Regierungswechsel heißen. Für eine klare, neue politische Vision gibt es derzeit wenig Spielraum, unter anderem, weil die finanziellen Mittel fehlen.
Es wird Labour wahrscheinlich erst einmal darum gehen, zu konsolidieren, die öffentlichen Dienstleistungen und den öffentlichen Sektor auf einigermaßen stabile Beine zu stellen. Das Wahlprogramm scheint keine großen Versprechen für große Veränderungen zu enthalten, die vielleicht nicht eingehalten werden können und für die die Partei von enttäuschten Wählern später zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Es könnte gut sein, dass dieser realistische Angang von vielen Wählern honoriert worden ist.
Seriöse Ziele - nicht unerfüllbare
tagesschau.de: Dabei sind die Probleme, vor denen das Land steht, enorm, wenn wir das Gesundheitssystem nehmen oder den Wohnungsbau. Ist die Enttäuschung der Wähler nicht absehbar, wenn Labour hier nicht liefert?
Guderjan: Die Frage ist, was im derzeitigen Rahmen überhaupt möglich ist. Das Gesundheitswesen hat für Labour sicher Priorität, und vielleicht ist es hier schon ein Erfolg, wenn man das Niveau hält und nicht weiter kürzt. Ob die Wähler das anerkennen, ist dann eine andere Frage. Ich gehe davon aus, dass Labour vor allem seriösere Ziele setzen wird, an denen sie sich messen lassen können. Anders als die Tories, die immer große Ziele ausgaben, die nicht erfüllt wurden.
"Macht nicht nur seit 2019 verspielt"
tagesschau.de: Dennoch haben sich die Tories 14 Jahre lang an der Macht halten können. Noch 2019 haben sie unter Boris Johnson eine komfortable Mehrheit erzielt. Wie hat die Partei es geschafft, das zu verspielen?
Guderjan: Sie haben das sicher nicht nur in der vergangenen Legislaturperiode verspielt. Wenn man sieht, was sie politisch zuwege gebracht und in welchen Zustand sie das Land manövriert haben, dann sprechen wir über die Bilanz der gesamten 14 Jahre. Wieviel davon dem früheren Premierminister David Cameron anzulasten ist, darüber kann man streiten. Aber allein dadurch, dass er das EU-Referendum angesetzt, es dann verloren hat und dann zurückgetreten ist, ist der jetzige Zustand auch auf ihn zurückzuführen.
Nach dem Abgang von Cameron haben rechtspopulistische Kräfte immer mehr die Partei übernommen. Die moderaten, seriösen und erfahrenen Politiker der Tories wurden an den Rand gedrängt. Dadurch ging auch Kompetenz innerhalb der Partei und der Regierung verloren. Stattdessen sind Politiker in die erste Reihe gerückt, die wenig seriös waren und ein Land nicht führen können.
Nach dem Referendum waren die Amtsperioden der jeweiligen Premierminister alle vergleichsweise kurz. Dass Boris Johnson bei den Parlamentswahlen 2019 einen großen Sieg errungen hat, war hauptsächlich seiner Persönlichkeit zuzuschreiben, seinem unkonventionellen Politikstil und seiner Rolle in der Brexit-Kampagne. Labour hat zu der Zeit keine populäre Alternative angeboten, ihr Kandidat Jeremy Corbyn war vielen zu extrem, so dass Johnson leichtes Spiel hatte. Insofern ist es nicht so, dass Rishi Sunak in seiner kurzen Zeit als Premierminister alle Verfehlungen alleine zu verantworten hat. Er hat bei den Wählern aber nicht den gleichen Anklang gefunden wie Johnson, weshalb die Partei jetzt stärker abgestraft wurde.
"Die Partei ist in sich zerstritten"
tagesschau.de: Wohin werden sich die Tories nun entwickeln? Geht die Partei noch stärker in den rechtspopulistischen Bereich oder können Sie sich vorstellen, dass nach dieser Niederlage die Kräfte der Mitte wieder stärker werden?
Guderjan: Die Partei ist in sich zerstritten und die ersten bringen sich schon in Stellung, um Sunaks Erbe anzutreten. Wie die moderate Mitte der Partei versuchen könnte, die Partei auf einen anderen Kurs zu bringen, ist unklar. Zumal mit Nigel Farage und Reform UK jetzt Player im Parlament sind, die die Tories vor sich hertreiben werden. Es gibt auch Spekulationen, dass Farage auf eine zukünftige Position bei den Konservativen hofft und diese dann von außerhalb gekapert wird.
tagesschau.de: Starmer hat sich noch kurz vor der Wahl kategorisch darauf festgelegt, unter ihm werde es kein Zurück in die EU geben. Warum legt er sich da so fest?
Guderjan: Auch das steht für die Nüchternheit des Wahlprogramms von Labour und den Verzicht auf unrealistische Versprechen. Starmer weiß um die Bedeutung der EU. Aber im Wahlkampf ging es darum, dass die Partei keine Fehler macht im Kalkül, dass es angesichts des Zustands der Tories schon gutgehen wird, wenn man Kontroversen vermeidet. Mögliche Fragen nach dem Wiedereintritt in die EU oder nach engeren Beziehungen hat man als Störfeuer eingeordnet, die es zu vermeiden galt.
Dahinter könnte die Strategie stehen, dass man, wenn man an der Macht ist, eine Annäherung angehen kann, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. Indem man durch kleinere Schritte oder Abkommen zum Beispiel in der Hochschulpolitik sich sukzessive der EU wieder annähert und schaut, wie das funktioniert, wie die Stimmung im Land ist - und dann vielleicht zu mutigeren Vorhaben schreitet.
"Kleinere Parteien haben besser als sonst abgeschnitten"
tagesschau.de: Veränderungen hat es im Parlament auch bei den bislang kleineren Parteien gegeben. Wofür steht das?
Guderjan: Bis auf die Scottish National Party haben kleinere Parteien besser abgeschnitten als sonst - auch das kann ein Indiz dafür sein, dass es vielen Wählern bei dieser Wahl nicht um eine Stimme pro Labour ging.
Plaid Cymru in Wales hat zwei Sitze dazugewonnen. Reform UK mit vier Sitzen haben wir schon erwähnt, die Grünen sind von einem auf vier Sitze gewachsen und die Liberal Democrats sind von acht auf 71 Sitze gesprungen.
Das ist in der Relation mindestens ein genau so bemerkenswerter Erfolg wie der Sieg von Labour. Es ist auch ein Zeichen an Labour, dass die proeuropäischen Wähler sich hier besser aufgehoben fühlen. Auch wenn Labour eine komfortable Mehrheit hat - es wird interessant sein, wie diese Parteien künftig die Debatten beeinflussen werden.
Spannend ist, dass die Scottish National Party 38 Sitze verloren hat und nur noch auf neun Abgeordnete kommt. Das ist für die schottische Unabhängigkeitsbewegung desaströs. Das Thema ist damit für eine Weile wahrscheinlich erstmal vom Tisch.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de