Zwei Hände mit Aufklebern auf denen "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“ steht, sind bei einer Demonstration in Istanbul zu sehen.

Proteste in der Türkei Vom Gymnasium auf die Straße

Stand: 15.04.2025 08:15 Uhr

Die Proteste in der Türkei weiten sich aus und ziehen immer jüngere Menschen auf die Straße. Auch Gymnasiasten machen ihrer Wut Luft: Zehntausende Lehrkräfte sollen ausgetauscht werden.

Schon seit Tagen gehen viele Schülerinnen und Schüler nicht in den Unterricht. Stattdessen: Sitzstreiks und Protest. In Ankara, Izmir, Antalya, Mersin oder Amasya. Oder in Istanbul bei einer spontanen Demo im Stadtteil Besiktas. Der Auslöser: Lehrkräfte von Projektschulen sollen versetzt werden - bis zu 20.000 in der gesamten Türkei.

Die Nachricht kam vor wenigen Tagen und überraschend. Projektschulen, das sind renommierte Gymnasien, mit hohem Anspruch und Kooperationen ins Ausland. Diesen Schüler, der anonym bleiben möchte, macht das wütend: "Unrechtmäßig werden Lehrkräfte umbesetzt. Allein an meinem Gymnasium wurden acht auf einmal versetzt. Es waren noch nie so viele. Das ist ganz sicher keine Routine. Da steckt was anderes dahinter."  

Eine Anwältin beobachtete die Demonstration in Istanbul. Sie war selbst Schülerin einer Projektschule in Besiktas. "Die Schülerinnen und Schüler sind der Meinung, dass ihre Lehrer aufgrund ihrer politischen Weltanschauung diskriminiert werden", kritisierte sie. Die Schülerinnen und Schüler wollten zurecht wissen, anhand welcher Kriterien ihre Lehrkräfte ausgetauscht werden und forderten Transparenz.

 

Regierungskritisch gegen regierungstreu?

Medienberichten zufolge werden vor allem solche Lehrkräfte versetzt, die als regierungskritisch gelten. Die zum Beispiel zuletzt an Demonstrationen gegen die Regierung teilgenommen haben sollen, nachdem Ekrem İmamoğlu inhaftiert wurde - Istanbuls abgesetzter Bürgermeister und möglicher Gegenkandidat von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die betroffenen Lehrkräfte sollen das auch im Unterricht thematisiert haben. Ihre Stellen erhalten jetzt andere, die der Regierung Erdoğan freundlich gesinnt seien, heißt es.  

Rechtmäßig sei das nicht, sagte Kemal Irmal von der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen dem Sender Halk TV. "Die Lehrer werden aus ihrem normalen Leben gerissen. Das ist das erste Mal in der Geschichte der Türkei. Ohne Kriterien und mitten im Jahr - das ist etwas Unrechtmäßiges", prangerte er an.

Das Thema nimmt Fahrt auf. Medien diskutieren. Auch Bildungsminister Yusuf Tekin äußerte sich im Fernsehen. Die Versetzungen seien rechtskonform, betonte er. "Die Verordnung ist aus dem Jahr 2020. Nach vier Jahren wird die Amtszeit unserer Kolleginnen und Kollegen in den Projektschulen verlängert - oder eben nicht", so Tekin. 

"Sie werden uns Schüler nicht kleinkriegen"

In Besiktas auf der Demo überzeugten solche Argumente nicht. Auf den Plakaten der Schülerinnen und Schüler stand: "Wir sind nicht euer Projekt! Fasst unsere Lehrkräfte nicht an!" Und: "Wir wollen Harmonie in der Bildung!"

Die Polizei war massiv präsent und filmte die Teilnehmenden systematisch ab. Viele von ihnen waren vermummt. Und viele waren noch sehr jung. Das Gymnasium besuchen Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. 

Eine Schülerin, die ebenfalls anonym bleiben möchte, erklärte sich die Versetzung der Lehrkräfte mit den Massenprotesten im Land. Die würden schließlich von jungen Menschen angetrieben. "Sie kriegen die Universitäten, die Studierenden nicht unter ihre Kontrolle und haben es deswegen auf die Gymnasien abgesehen. Aber sie werden uns Schüler nicht kleinkriegen, niemals", betonte sie.

Dann bog ein Protestzug um die Ecke. Studierende schlossen sich den Schülerinnen und Schülern an. Auf ihren Plakaten: Karl Marx und das Pokémon Pikachu, mittlerweile ein Symbol des Widerstands. Die größte Protestbewegung der Türkei seit mehr als zehn Jahren, sie hat mittlerweile auch die Gymnasien erreicht.  

Mitarbeit: Mehmet Uksul, ARD Istanbul

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 15. April 2025 um 06:28 Uhr.