Moskaus Wahl in der Ukraine "Millionen zur Pseudowahl gezwungen"
Auch in den besetzten ukrainischen Regionen sind die Menschen zur Wahl des russischen Präsidenten aufgerufen. Die Regierung in Kiew spricht von einer "Farce", Ukrainer berichten von Druck.
Wenn Boris seine Mutter erreichen möchte, weiß er nie, ob es klappt. Sie wohnt im russisch besetzten Donezk, und die beiden halten Kontakt über Messengerdienste wie Telegram und Viber.
Der Zugang über eine einigermaßen geschützte Verbindung wird von den russischen Besatzern systematisch gestört - dieses Mal funktioniert es und die pensionierte Lehrerin erscheint auf dem Smartphone. Einen russischen Pass habe sie nicht angenommen und an sogenannten Wahlen in ihrer russisch besetzten Heimat nehme sie grundsätzlich nicht teil, erklärte sie resolut: "Diese sogenannte Abstimmung wurde schon durchgeführt", sagt sie. "Hier sind nur sehr wenige Menschen hingegangen. Bei uns gibt es keine Wahlen bei denen man ehrlich seine Meinung ausdrücken kann. Das ist hier unmöglich."
Vor der Zwangsabstimmung seien überall in der Stadt Donezk Plakate und Slogans angebracht worden, erzählt sie weiter, und ihr Briefkasten sei voller Gratiszeitungen mit russischer Propaganda.
Kuleba spricht von "weiterer Farce" Russlands
Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Russland und den russisch besetzten ukrainischen Gebieten würden zu Pseudowahlen gezwungen, erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Die Vorgänge seien eine weitere Farce, die Russland dann Wahlen nennen werde.
"Ich möchte noch einmal deutlich sagen, dass die derzeitige russische Diktatur weder etwas mit Wahlen noch mit Demokratie zu hat", so Kuleba.
Ukraine: Scheinwahlen nicht anerkennen
Die simulierten Präsidentschaftswahlen seien eine kriminelle Handlung in den besetzten Teilen der ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson Saporischschja und auf der Halbinsel Krim. All dies sei eine weitere dreiste Missachtung des Völkerrechts, so Kuleba. Die internationale Gemeinschaft dürfe die Pseudo-Präsidentschaftswahl nicht anerkennen, so der Außenminister und appellierte unter anderem an Medien, die Illusion eines Wahlprozesses zu vermeiden.
Demokratische Länder dürften den illegalen und gesetzeswidrigen Vorgang nicht als Wahl anerkennen, das betonte auch der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets. Die Russische Föderation werde anschließend dem internationalen Umfeld folgendes erzählen: Auch wenn die Gebiete illegal erobert worden seien, hätte Russland seine Macht dort etabliert. "Russland wird sagen: 'Wir haben dort sogar Wahlen abgehalten, dort fanden Präsidentschaftswahlen der Russischen Föderation statt.'"
Moskau zeichnet ein anderes Bild
Das russische Propaganda-Staatsfernsehen fragte unterdessen zwei scheinbar zufriedene Frauen aus dem besetzten Donezk. Bei den Wahlen gehe es vor allem um die Zukunft der Kinder, sagt eine. Die Republik sei auf dem richtigen Weg, und mit Putin stelle sich der richtige Mann zur Wahl. Auch die zweite lobte den russischen Machthaber: "Dank Putin bekommen wir unsere Rente und in Donezk ist es ruhig und alles ist gut."
Der ukrainische Menschenrechtsbeauftrage Dmytro Lubinets nannte dies eine verzerrte Realität und hob den Besatzungsdruck auf die Menschen in den russisch besetzten Gebieten hervor. "Das Problem besteht darin, dass die Menschen in den vorübergehend besetzten Gebieten auf die eine oder andere Weise gezwungen werden, teilzunehmen", so Lubinets. "Es ist uns sehr wichtig, diese Verantwortung zu unterscheiden."
Simuliert Russland nur die Teilnahme?
Die Scheinwahlen fänden unter Zwang statt, konstatierte auch das "Zentrum des Nationalen Widerstands" der ukrainischen Armee, die unter anderem Beispiele online stellte. Um eine hohe Beteiligung zu simulieren, seien etwa 100.000 Russen in die besetzten Gebiete gebracht und gefilmt worden. Arbeitende aus Zentralasien ohne russischen Pass würden ebenfalls abstimmen, und die Scheinabstimmung werde über Wochen gestreckt, was Wählerrechte einschränke.
Menschen würden in Wahllokalen videoüberwacht und zur Teilnahme gezwungen. "Presse- und Meinungsfreiheit gibt es bei uns nicht", bestätigte erneut auch die pensionierte Lehrerin aus Donezk, was seit langem dokumentiert ist, unter anderem durch zahlreiche ukrainische Menschenrechtsorganisationen wie Zmina. Sie unterstütze die Ukraine, frei äußern könne sie sich im russisch besetzten Donezk nicht.
"Ich kann nur mit Leuten reden, bei denen ich weiß, dass sie Verwandte in der Ukraine haben oder Binnenflüchtlinge sind", sagt die Mutter. "Denn wir haben gemeinsame Probleme. Wir machen uns Sorgen um unsere Verwandten. Aber in unserem Haus wohnen zum Beispiel Familien von mobilisierten Soldaten der russischen Armee. Wir reden nur über banale Fragen, wie die Heizung. Mehr nicht."
Immer mehr Ungewissheit
Boris hat seine Heimatstadt schon vor Jahren verlassen, doch seine Mutter harrt seit 2014 in Donezk aus. Ihr alter Vater will bleiben, und sie möchte ihn nicht alleine lassen. Es gäbe Probleme mit Strom, zurzeit nur drei Stunden Wasser pro Tag, und seit der russischen Großinvasion arbeite sie nur noch sporadisch, um die Rente aufzubessern, so die frühere Lehrerin, doch alles sei teurer und die Gehälter immer weniger geworden.
Auf der Straße sehe sie wenig Menschen und viele Verwundete und verstümmelte Männer. Ihre kleine Enkelin habe sie noch nie gesehen - und auch wenn es nicht ungefährlich ist, mit ihrem Sohn Boris hält sie Kontakt. "Wie es weitergeht, ist ungewiss, und je länger es dauert, desto mehr Probleme werden auftauchen", sagt sie. "Bis jetzt können wir noch kommunizieren, aber was weiter wird, weiß ich nicht."
Abgestimmt wurde auch in den besetzten Gebieten der Ukraine - unter fragwürdigen Umständen.
Einen eigentlichen Wahlkampf hatte es im Vorfeld kaum gegeben, wohl aber Berichte unabhängiger Journalisten über Druck auf Beamte und Beschäftigte staatlicher Betriebe, sich zur Abstimmung registrieren zu lassen und mindestens zehn Personen mitzubringen.
Für unabhängige Wahlbeobachter gab es hohe Hürden, etwa wurde die Organisation "Golos" mehrfach als "Ausländischer Agent" gebrandmarkt und aufgelöst. Aus dem Ausland angekündigt waren vor allem Vertreter aus Staaten, die starke Sympathien für die russische Führung hegen wie Serbien beziehungsweise selbst autokratisch bis diktatorisch regiert werden (Venezuela, Myanmar, Kamerun). Aus Deutschland wollten drei Abgeordnete der AfD als "Experten für Demokratie" einreisen.
Bei früheren Wahlen hatte es in Russland stets Meldungen und Beweisvideos von Manipulationen an den Wahlurnen, Mehrfachabstimmungen oder Anreizen wie üppigen Buffets der Regierungspartei "Einiges Russland" in Wahllokalen gegeben. Proteste wurden von Sicherheitskräften in kürzester Zeit unterbunden und zogen meist eine Strafverfolgung nach sich.
Jasper Steinlein, tagesschau.de