Umweltministerin Lemke Artensterben betrifft auch Deutschland
Das Artensterben betrifft nicht nur den Regenwald: So sind in Deutschland bereits rund 75 Prozent aller Insekten verschwunden. Umweltministerin Lemke fordert daher mehr Engagement für den Artenschutz - und will Milliarden dafür bereitstellen.
Vor der Weltnaturkonferenz in Montreal zeigt sich die Bundesregierung ambitioniert. Umweltministerin Steffi Lemke von den Grünen will, dass eine neue globale Vereinbarung beschlossen wird, um die biologische Vielfalt zu schützen. Nicht nur weltweit, auch in Deutschland sind viele Tier- und Pflanzenarten bedroht.
Der Handlungsbedarf ist groß: Von global geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten sind Wissenschaftlern zufolge eine Million vom Aussterben bedroht. Dabei sind nicht nur etwa die Tropenwälder betroffen. Auch in Deutschland sei der Rückgang der Artenvielfalt dramatisch, erklärt die Biologin Katrin Böhning-Gaese. Hier treffe es vor allem viele Vogelarten, sagt die Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums dem ARD-Hauptstadtstudio. In der Agrarlandschaft, also auf Äckern, Wiesen und Weiden hätten die "Bestände der Vögel dort in den letzten 25 Jahren um rund 30 Prozent abgenommen".
75 Prozent weniger Insekten
Als gefährdet gelten etwa Rebhühner und Feldlerchen. Gerade Vögel sind ein wichtiger Indikator für den Zustand der Natur - denn sie sind auf intakte Lebensräume angewiesen. Die finden sie aber immer weniger vor. Der Schwund der Artenvielfalt macht sich auch bei den Insekten bemerkbar: 75 Prozent sind hierzulande innerhalb der letzten 27 Jahre verschwunden, das hat die sogenannte Krefelder Studie 2017 in untersuchten Naturschutzgebieten gezeigt.
Vor allem, aber nicht nur, in der Agrarlandschaft sind viele Arten gefährdet. Auch Bebauung und Überfischung, Waldrodung, Umweltverschmutzung oder der Klimawandel sorgen für einen ökologischen Notstand bei vielen Tier- und Pflanzenarten - hierzulande und weltweit.
Die Feldlerche gilt in Deutschland als gefährdet.
1,5 Milliarden Euro jährlich für die biologische Vielfalt
Bundesumweltministerin Lemke betont, die biologische Vielfalt gehe in einem "schlimmen schnellen Tempo" verloren, so schnell, wie im Schnitt der letzten zehn Millionen Jahre nicht. Die Grünen-Politikerin mahnt schnelles Handeln an: Sie will, dass sich die internationale Staatengemeinschaft bei der Weltnaturkonferenz in Montreal auf eine Vereinbarung verständigt, die für eine Trendwende sorgt: Weg vom Artensterben, hin zur Wiederherstellung der Natur.
Eines der Hauptziele der Konferenz: Mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen weltweit sollen unter Schutz gestellt werden. Ziele allein aber reichen der Umweltministerin nicht. Die Vorgaben müssten "mit Qualitätskriterien untermauert werden, um klarzustellen, wie dieser Schutz auszusehen hat." Das bedeutet nach Ansicht der Ministerin: Effektive Umsetzungsmechanismen, eine regelmäßige Überprüfung und eine angemessene Finanzierung. Die Bundesregierung hat bereits Zusagen gemacht. So will Deutschland von spätestens 2025 an 1,5 Milliarden Euro jährlich für die biologische Vielfalt weltweit zur Verfügung stellen, doppelt so viel Geld wie in den vergangenen Jahren. "Wir Menschen", betont Lemke, "sind auf eine gesunde Natur und ihre ökologischen Funktionen angewiesen".
Weniger Düngemittel und Pestizide, mehr Ökolandbau und Büsche
Von intakten Ökosystemen hängt viel ab, erläutert auch die Biologin Böhning-Gaese: Saubere Luft, sauberes Wasser, aber auch große Teile unserer Nahrung. Viele Bäume und Früchte wie zum Beispiel Äpfel und Kirschen werden von Insekten bestäubt, erläutert die Wissenschaftlerin. Gibt es weniger Insekten, sinken am Ende auch die Erträge. Die Arten seien "wie ein Netzwerk miteinander verflochten". Geht eine nach der anderen verloren, dann sei es so, "als wenn wir Maschen aus diesem Netzwerk rausnehmen". Mit fatalen Folgen - am Ende könnte das ganze System reißen.
In Deutschland selbst will die Umweltministerin mit einem "Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz" den Schutz von Mooren, Wäldern und Gewässern voranbringen. Dafür stehen bis 2026 vier Milliarden Euro zur Verfügung. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet die Wissenschaftlerin Böhning-Gaese und mahnt zugleich ein Umsteuern in der Landwirtschaft an: Weniger Düngemittel und Pestizide auf den Äckern, mehr Ökolandbau, mehr Büsche und Bäume. Dort, wo das praktiziert wird, sieht sie Erfolge. Es habe sich gezeigt, dass typische Vögel, wie zum Beispiel die Feldlerche, wieder vermehrt vorkommen. Auch die Bestände der Weißstörche hätten sich positiv entwickelt.
Klimakrise und Artensterben untrennbar verbunden
Ein Umsteuern fordern auch Umweltverbände, sie wollen unter anderem einheitliche und überprüfbare Standards für den Artenschutz, um Erfolge zu messen und zu überprüfen, an welchen Stellen noch mehr getan werden müsse. Der Präsident des Deutschen Naturschutzrings, Kai Niebert, setzt zudem auf die Ausweisung von Schutzgebieten, damit mehr Wildnis entstehen kann. Aber nicht nur das: Damit Mensch und Umwelt profitieren, könnten Flächen auf verschiedene Art und Weise genutzt werden. Ein Beispiel: Photovoltaik-Anlagen auf Moorflächen.
In Deutschland, aber auch weltweit, warten also viele Herausforderungen. Für Ministerin Lemke geht es auf der Weltnaturkonferenz um nichts weniger als darum, "unsere Lebensgrundlagen zu schützen". Zwar sei die geopolitische gegenwärtige Situation "keine ideale Voraussetzung" für internationale Verhandlungen, gibt sie zu. Inflation und Energiekrise sorgten dafür, dass der "Druck auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen erhöht" werde. Trotzdem bleibt sie zuversichtlich, bei der Konferenz in Montreal zu einer Vereinbarung zu kommen. Vielen sei bewusst, dass die Klimakrise, aber auch die des Artenaussterbens gelöst werden müsse - beides sei untrennbar miteinander verbunden.