Grippewelle Warum viele Ärzte Kinder impfen
Die Influenza-Zahlen steigen - auch bei Schulkindern. Eine Impfung von Jüngeren könnte große Effekte haben, auch wenn sie kontrovers diskutiert wird.
Es war noch Sommer in Deutschland, als der Bund der Kinder- und Jugendärzte vor der bevorstehenden Influenza-Saison warnte: Die Grippewelle auf der Südhalbkugel sei ein "sicheres Alarmzeichen". Im australischen Winter hatte das Virus auffällig viele Kinder unter neun Jahren getroffen, auch die Zahl der Todesfälle bei unter 16-Jährigen war ungewöhnlich hoch.
Im Januar legte der Verband dann nach: Präsident Michael Hubmann forderte die Ständige Impfkommission auf, eine Grippeschutzimpfung auch für Kinder ohne Vorerkrankungen zu empfehlen. Argumentiert wird dabei auch mit indirekten Effekten, weil damit die Ausbreitung reduziert werden könnte.
Vielleicht auch eine normale Grippesaison
Wie schwer die aktuelle Grippewelle ausfallen wird, ist dabei noch gar nicht ausgemacht. Seit Anfang des Jahres steigen die Ansteckungszahlen rapide, auch in Deutschland sind gerade besonders viele Schulkinder betroffen. Doch bislang bewege sich alles im normalen Bereich, sagt Tobias Ankermann, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Städtischen Krankenhaus in Kiel, man habe aktuell einzelne Kinder in der Klinik: "Die Anstiegs-Kinetik und auch die Altersverteilung entsprechen momentan einer normalen Influenza-Saison."
Der Influenza-A-Virustyp, der in Deutschland zurzeit dominiert, ist ein alter Bekannter: Einst als "Schweinegrippe" bekannt geworden, kursiert er seit 2009 immer wieder. "Diese H1N1 Viren sind hauptsächlich für milde Erkrankungen verantwortlich", sagt die Influenzaforscherin Gülsah Gabriel vom Leibniz-Institut für Virologie in Hamburg. Denn sie infizieren vor allem die oberen Atemwege und sind darum zwar besonders gut übertragbar, greifen aber die Lunge weniger an. Daneben kursiert - deutlich weniger - ein H2N3-Stamm, der etwas krankmachendere Eigenschaften hat. Influenza B-Viren sind aktuell offenbar viel seltener als in Australien.
Bevölkerungsimmunität ist ein entscheidender Faktor
Die Grippesaison auf der Südhalbkugel lässt sich zwar als Indikator, nicht immer aber auch als Blaupause für Europa verwenden, denn die Situation ist komplex: Nicht nur die Art der Erreger, auch die Grundimmunität in der Gesamtbevölkerung ist dabei entscheidend - also der Impfstatus ebenso wie vorangegangene Infektionen. Inwieweit Pandemie-Nachholeffekte sich noch immer bemerkbar machen, ist unklar.
In Deutschland ist grundsätzlich ein Problem, dass gerade die älteren Risikogruppen unzureichend geimpft sind. Bei den über 65-Jährigen erreicht die Impfquote in der Regel nicht einmal 50 Prozent - und dass die Immunantwort auf Impfungen mit dem Alter abnimmt, ist gut belegt. Daten aus anderen Ländern zeigen durchaus, dass eine großzügige Impfung auch jüngerer Menschen spürbare Effekte auf die Gesamtbevölkerung haben kann. Das könnte Druck vom Gesundheitssystem nehmen, auch in der besonders belasteten Kindermedizin.
Impfwirksamkeit schwankt
Tatsächlich nehmen Kinder eine spezielle Rolle in der Ansteckungsdynamik ein, weil sie besonders viele Kontakte haben und so überproportional zur Ausbreitung beitragen. Ein Drittel aller infizierten Menschen entwickelt gar keine Symptome. Doch Influenza-Expertin Gabriel betont, dass bei der Impfung der Schutz vor Erkrankung im Vordergrund stehe, eine unbemerkte Ansteckung könne sie oft gar nicht verhindern: "Bei respiratorischen Erregern, vor allem bei Influenzaviren, die so schnell evolvieren, ist eine sterile Immunität kaum möglich."
Denn das Virus verändert sich jedes Jahr, die Impfwirksamkeit schwankt erheblich, in schlechten Jahren erreicht sie auch schon mal nur 30 Prozent. Martin Eichner vom Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie der Universität Tübingen vergleicht die verschiedenen Ebenen der Impfwirksamkeit mit einer russischen Puppe, deren Ausmaß je nach Anforderung kleiner wird: Misst man die Impfeffektivität gegen Infektion, ist die Wirksamkeit geringer als gegen Erkrankung. Trotzdem betont der Epidemiologe die Wichtigkeit von indirekten Effekten.
Kinder haben eine besondere Rolle
Eichner war an Modellierungen beteiligt, die große Auswirkungen einer Impfung jüngerer Bevölkerungsgruppen zeigen. Jahre mit schlechter Impfwirksamkeit versuchen die Modellierer dabei mit abzubilden, indem über einen längeren Zeitraum Zufallsfaktoren eingebaut werden.
Eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder wird in Forschungs- und Medizinerkreisen aber dennoch kontrovers diskutiert. Die Virologin Gabriel meint, dass der Benefit der Impfung für die Kinder im Vordergrund stehen müsse, insbesondere nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie. Kinderarzt Ankermann findet den Gedanken zwar bedenkenswert, sagt aber dennoch: "Ich bin als Arzt für meine Patienten da und für die Gesellschaft - aber mit Priorität für meine Patienten." Auch Epidemiologe Eichner räumt ein, "dass man hier eigentlich ethisch auf schwierigem Boden ist".
Der einzelne Patient steht im Vordergrund
Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder und Jugendmedizin an der Universität Mainz, der auch STIKO-Mitglied ist, stellt klar: "Fehlendes oder unzureichendes Schutzverhalten von älteren Erwachsenen ist kein gutes Argument für eine medizinische Intervention mit vergleichsweise geringem eigenen Nutzen in jüngeren Altersgruppen." Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder ohne besonderes Risikoprofil lebensbedrohlich erkranken, ist vergleichsweise gering.
Trotzdem: Es gebe gute Gründe, Kinder vor der Influenza zu schützen, sagt der Kieler Kinderarzt Ankermann: "Wenn man Kinder gesehen hat, die an Influenza erkranken, auch ohne Komplikation, das ist eine schwere Virusinfektion. Und wenn man den Kindern das ersparen oder abschwächen kann, ist das gut." Besonders Kleinkinder und Säuglinge sind gefährdet: Weltweit erkranken rund 90 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich.
Jüngere können schon jetzt geimpft werden
Auch Kritiker der Herdenschutz-Argumentation halten deshalb eine Influenza-Impfung für Kinder zu ihrem eigenen Wohl oft für sinnvoll. Viele Kinderärzte impfen auf Nachfrage schon jetzt, auch ohne STIKO-Empfehlung, und die meisten großen Krankenkassen übernehmen die Kosten.
In diesem Jahr ist der WHO bei der Vorab-Festlegung der Impfstoffanpassung an die mutierten Erreger offenbar eine besonders große Trefferquote gelungen. STIKO-Mitglied Zepp setzt für die Zukunft auf besser wirksame Impfstoffe, etwa nach dem mRNA-Prinzip. Schon jetzt allerdings können auch jüngere Erwachsene durch Impfung zum Schutz anderer zumindest beitragen.