Ein Kind auf einer Schaukel

Welttag der Stimme Ab wann sollten Kinder sprechen?

Stand: 16.04.2025 11:07 Uhr

Kinder lernen in ganz unterschiedlichem Tempo sprechen. Für Eltern ist es deshalb oft nicht leicht zu beurteilen, ob ihr Kind altersgerecht spricht. Was ist normal - und ab wann ist es eine Störung?

Von Elena Weidt, SWR

Unsere Stimme ist einzigartig, jede klingt ein wenig anders. Sie begleitet uns durchs Leben, vom ersten Schrei bis zum letzten Wort. Der heutige "Welttag der Stimme" soll auf die Bedeutung der Stimme aufmerksam machen. Doch bis wir sie richtig einsetzen können, dauert es meist Jahre. Denn das Sprechen lernen gehört zu den komplexesten Aufgaben, die Kinder meistern müssen.

Die Sprachentwicklung von Kindern verläuft sehr uneinheitlich. Manche Kinder können mit zehn Monaten schon ganze Wörter sprechen, andere beginnen damit erst mit zwei Jahren. Manche Kinder sprechen anfangs nur einzelne Wörter, andere schon ganze Sätze. Manche sprechen Wörter direkt richtig aus, andere brauchen hier viel Zeit zum Üben.

"Das ist teilweise genetisch. Wir alle haben unterschiedliche Talente. Das gilt auch fürs Sprechen lernen. Wir alle fangen unterschiedlich schnell und gut an zu sprechen“, beruhigt Rainer Beck. Er ist Facharzt für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen und Leiter der Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Freiburg. Zu Beck kommen Kinder in die Sprechstunde, denen es aus unterschiedlichen Gründen schwerfällt, das Sprechen zu lernen. Die Varianz, was Kinder können müssen, ist am Anfang noch sehr breit, im Verlauf der Entwicklung wird die Erwartungshaltung ans Sprechen lernen aber immer klarer.

Wichtiger Meilenstein: die Wortschatzexplosion

Einen ersten Meilenstein erreicht ein Kind, wenn es etwa 50 verschiedene Worte spricht. Ob das Kind diese Hürde nehmen konnte, wird bis zum Ende des zweiten Lebensjahrs im Rahmen der U7-Untersuchung überprüft. Hier liegt der Fokus auf der sprachlichen Entwicklung. Wenn ein Kind ungefähr 50 verschiedene Wörter kann und wenn es genügend Erfahrungen gesammelt hat, wie die Wörter gebraucht werden, beginnt es in der Regel die Wörter zu kombinieren, wie zum Beispiel "Mama Ball“.

Mit diesem Wortkombinationen, den Zwei-Wort-Sätzen, beginnt die sogennannte Wortschatzexplosion, erklärt Beck: "Die Kinder lernen plötzlich innerhalb von wenigen Wochen und Monaten dann ganz viele Wörter hinzu, sodass die quasi dann bald auch unzählbar werden. Und wenn das stattfindet, ist das erst mal ein Zeichen, dass alles gut läuft."

Die Aussprache kann dann immer noch undeutlich sein oder Wörter vereinfacht artikuliert werden. Wie gut die Grammatikregeln eingehalten werden, wie die Aussprache ist, könne man erst bei Kindern ab drei Jahren beurteilen, erklärt Rainer Beck.

Late-Talker oder Spracherwerbstörung?

Je nach Studienlage erreichen etwa 15 Prozent dieses Ziel nicht und sprechen am Ende des zweiten Lebensjahres weniger als 50 Wörter. Statt Dinge zu benennen, zeigen diese Kinder mit Fingern auf sie oder benutzen Gesten und Geräusche. Diese Kinder bezeichnet man als "Late-Talker“, also späte Sprecher.

"Late Talker" haben aber keine Störung, sondern lernen einfach langsamer, als die Norm es verlangt. Manchmal brauchen diese Kinder Monate, bis ein neues Wort dazukommt, auch wenn Eltern sie viel fördern. Man spricht von einer Sprachentwicklungsverzögerung: "Late-Talker sind Kinder, die das Potenzial haben, sich bis zum Ende des dritten Lebensjahres doch noch in den normalen Entwicklungsstrang zurückzubewegen. Und das schaffen die meisten auch“, erklärt Rainer Beck.

Laut dem Deutschen Bundesverband für Logopädie holt eins von drei Kindern die Sprache auf und spricht nach dem dritten Geburtstag normal. Es gibt mittlerweile auch gezielte Late-Talker-Therapien, um diese Kinder rechtzeitig zu unterstützen.

Sprachentwicklungsstörungen können sehr unterschiedlich sein

Holen diese Kinder den Rückstand nicht auf, spricht man von einer Sprachentwicklungsstörung. Die Zahl betroffener Kinder ist hoch, bestätigt Beck. Etwa acht Prozent aller Kinder im Vorschulalter sind davon betroffen.

Die Symptome sind vielfältig: So gibt es Störungen des Lauterwerbs - wenn Kinder beispielsweise "Gose" statt "Dose“ sagen oder Laute ganz auslassen. Manche Kinder kennen nur wenige Wörter oder benutzen das Verb "machen" für fast alles. Andere beherrschen die Grammatik nicht: "Die Oma Kuchen backt.“ Aber es gibt auch zum Beispiel Kinder mit frühkindlichem Autismus, die kaum sprechen lernen und nonverbal bleiben.

Häufiges Thema ist die Bildschirmzeit

"Wir schauen dann erst mal: Wie gut hört das Kind, wie ist die kommunikative Fähigkeit des Kindes generell, also wie äußert es seine Bedürfnisse, und braucht es logopädische Beratung oder was anderes?“, erklärt Beck die ersten Schritte in der Spezialambulanz in Freiburg.

Ein weiteres großes Thema in der Sprechstunde sei meist auch die Bildschirmzeit der Kinder: "Wir raten vor dem dritten Lebensjahr, das eigentlich ganz zu lassen oder es auf eine halbe Stunde zu begrenzen.“

Verkürzten Eltern die Medienzeit, beobachte Beck häufig bereits einen positiven Effekt auf die Sprachentwicklung der Kinder. In einer aktuellen australischen Kohortenstudie mit 220 Familien konnte ein wichtiger Zusammenhang gezeigt werden: Mehr Bildschirmzeit war mit einer Abnahme der Gespräche zwischen Eltern und Kind verbunden. Die Kinder waren im Studienzeitraum zwischen ein und drei Jahre alt. Auch eine andere Studie, die 40.000 Stunden Audiomaterial auswertete, kam zum Ergebnis: Kinder, die mehr Gespräche von Erwachsenen hören, sprechen tendenziell mehr. Warum das so ist, muss noch weiter erforscht werden. Auch wurde hier nicht berücksichtigt, wie gut die Kinder sprechen, sondern nur, wie viel sie sprechen.

Das Umfeld sei der entscheidende Faktor beim Sprechen lernen, also wie viele Möglichkeiten das Kind zum Kommunizieren hat: "Welche Gesprächspartner und -partnerinnen sitzen mir gegenüber? Spielen und reden die aufmerksam mit mir oder ignorieren sie mich?", sagt Beck. Zugleich müsse man aber auch den Druck von den Eltern nehmen, denn gerade am Anfang sei es eben sehr individuell, wann ein Kind wie viel spricht.

Als weitgehend abgeschlossen gilt die Sprachentwicklung im Übrigen mit etwa sechs Jahren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 im BR Fernsehen am 06. September 2024 um 16:00 Uhr.