Interview

Interview zur gekippten Tarifeinheit "Es wird mehr Streiks geben"

Stand: 24.06.2010 14:45 Uhr

Kommt es durch das Urteil zur Tarifeinheit zu einer Spaltung der Belegschaften und einer Vielzahl von Streiks einzelner Berufsgruppen? "Da wird dramatisiert", sagt Arbeitsrechtler Greiner im Interview mit tagesschau.de. Er plädiert für ein vernünftiges Nebeneinander verschiedener Gewerkschaften.

tagesschau.de: Herr Greiner, durch die Entscheidung des BAG drohe "die Zersplitterung des Tarifvertragssystems, eine Spaltung der Belegschaften und eine Vervielfachung kollektiver Konflikte", sagt der Präsident des Bundesverbands Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt. Hat er Recht?

Stefan Greiner: In Ansätzen mit Sicherheit. Es wird mehr Streiks geben. Das konnte man ja auch in der jüngeren Vergangenheit bei der Deutschen Bahn und im Luftverkehr beobachten. Auf der anderen Seite werden die Dinge aber auch dramatisiert. Man kann eine Gewerkschaft nicht einfach von heute auf morgen aus dem Boden stampfen. Die Berufsgruppen, die bisher eine eigenständige Tarifpolitik angestoßen haben, verfügen alle über eine lange gewerkschaftliche Tradition und ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist nicht überall anzutreffen. Das Ganze wird also zu keinem Massenphänomen werden. Es ist aber schon damit zu rechnen, dass weitere Berufsgruppen dem Vorbild der Piloten oder auch Lokführer folgen werden.

Zur Person

Dr. Stefan Greiner, Jahrgang 1978, lehrt derzeit an der Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das Arbeitsrecht. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch "Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität".

Der DGB fürchtet um sein Verhandlungsmonopol

tagesschau.de: Drohen uns nun andauernde Streiks?

Greiner: Deutschland war immer schon ein streikarmes Land, und auch die jüngsten Auseinandersetzungen zeigen, dass man sich auch bei Anerkennung einer Tarifpluralität auf vernünftige Lösungen einigen kann - nur eben nicht gegen den Willen einiger Akteure, und auch nicht, indem man die Berufs- und Spartengewerkschaften vom Markt verdrängt. Man muss sich an den Verhandlungstisch setzen und dann um einvernehmliche Lösungen ringen. So ist es ja bei der Deutschen Bahn auch geschehen.

tagessschau.de: Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der BDA haben sich gegen das geplante Ende der Tarifeinheit ausgesprochen. Woher kommt die seltene Eintracht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern?

Greiner: Das bisherige Modell war für beide Seiten sehr bequem: Der DGB hatte auf Arbeitnehmerseite quasi ein Verhandlungsmonopol, und die Arbeitgeber hatten klare einheitliche Tarifstrukturen und jeweils eine Gewerkschaft als Ansprechpartner auf der Arbeitnehmerseite. Insofern wird schon von einem Kartell aus dem bisherigen Monopolgewerkschaftsverband DGB und der Arbeitgeberseite gesprochen, weil sich deren Interessen decken und klar gegen die Zulassung weiterer Akteure auf Gewerkschaftsseite richten.

tagesschau.de: Denkt der DGB also nicht an die Arbeitnehmer, sondern an sich, wenn er sich so vehement gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ausspricht?

Greiner: In Teilen ja. Auf der anderen Seite muss man dem DGB aber zugutehalten, dass er auch ein legitimes sozialpolitisches Interesse verfolgt: die bisher gegebene, umverteilende und ausgleichende Funktion der Branchentarifverträge zu verteidigen. Insofern setzt er sich auch für Arbeitnehmerverträge ein.

Vielfalt zu- und Vernunft walten lassen

tagesschau.de: Nun kommen die ersten Forderungen an die Politik auf, Tarifeinheit entweder per Gesetz herzustellen - oder aber die Verfassung zu ändern. Was halten Sie von solchen Forderungen?

Greiner: Eine Lösung ohne Verfassungsänderung stößt natürlich immer an die Grenzen, die die Verfassung setzt. Das Modell, das DGB und BDA vorgelegt haben, ist nicht tragfähig, weil es lediglich darauf abzielt, Berufs- und Spartengewerkschaften vom Markt zu verdrängen. Das ist mit Sicherheit verfassungswidrig.

Eine vernünftige Regelung müsste einvernehmliche Lösungen fördern - aber nicht das legitime Wirken von Berufs- und Spartengewerkschaften unterbinden. Ich plädiere für Vielfalt und Vernunft: zunächst Zulassung der Vielfalt, und dann auf einer zweiten Ebene einvernehmliche Verhandlungslösungen, die durchaus vom Gesetzgeber durch Leitlinien mit Augenmaß flankiert und unterstützt werden können.

Das Gespräch führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.