Tag der Industrie Entkoppelte Wirtschaftswelten
In Berlin hält der Industrieverband BDI sein alljährliches Spitzentreffen ab - ein routiniertes Programm mit Gästen wie Kanzler Scholz und Oppositionschef Merz. Vor Ort im Mittelstand ist die Stimmung oft schlecht.
Kleinkarlbach in der Pfalz: Mehr ländliche Region geht kaum. Die Ortsgemeinde, in der knapp 1.000 Menschen leben, ist umgeben von Weinreben. Der Pfälzer Wald ist nicht weit. Es gibt eine Zimmerei, einen Friseur, mehrere Weingüter und am Ortsausgang auch einen mittelständischen Industriebetrieb: Die Gesellschaft für chemische Produkte - kurz Gechem - hat hier seit 1861 ihren Sitz.
Geschäftsführerin Martina Nighswonger ist im Betrieb schon früh unterwegs. "Vom Tag der Industrie in Berlin habe ich gehört. Auf dem Programm stehen interessante Themen, und es gibt wohl wieder vollmundige Erklärungen. Konkretes erwarte ich aber nicht", sagt sie zum Spitzentreffen in der fernen Hauptstadt. "Ich frage mich, ob man dort überhaupt weiß, was bei mittelständischen Betrieben inzwischen los ist."
"Die Rahmenbedingungen machen uns das Arbeiten immer schwerer", kritisiert Gechem-Geschäftsführerin Martina Nighswonger.
"Es wird immer schlimmer"
Gechem produziert nach eigenen Rezepturen Tabs für Geräteentkalker, Toiletten-, Geschirr- und Kaffeereiniger. Die Firma hat dafür eine eigene Entwicklungsabteilung. Zudem füllt der Betrieb für Großunternehmen Substanzen ab, mahlt diese auch und verpackt das Material.
"Wir sind am Markt gut vertreten", so Nighswonger. "Aber die Rahmenbedingungen machen uns das Arbeiten immer schwerer. Und es wird immer schlimmer", fasst die Geschäftsführerin die Entwicklung der vergangenen Jahre zusammen. Seit Corona gebe es anhaltende Probleme mit Lieferketten, die Inflation habe die Preise getrieben, und die Energiepreise seien im internationalen Vergleich weiter viel zu hoch.
Strukturkrise und der Ballast der Bürokratie
"Dazu kommt der Ballast der Bürokratie. Für den Mittelstand ist das finanziell und personell nicht mehr zu stemmen", sagt Nighswonger. Sie nennt als aktuelle Beispiele die sogenannte NIS II-Regelung der Europäischen Union zur Cybersicherheit - ein Referentenentwurf von 189 Seiten.
"Allein diese Regulierung dürfte nach Expertenschätzung die Unternehmen hierzulande drei Milliarden Euro kosten. Das ist etwa die Summe, die durch das Wachstumschancengesetz zur Verfügung gestellt wird. Das Geld wird also aufgefressen, bevor es überhaupt da ist - für Papierkram", ärgert sich Nighswonger und zählt weitere anstehende Verwaltungsaufgaben auf: etwa das europäische Lieferkettengesetz und das bereits gültige deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
Die Banken hätten auch noch seitenlange Nachfragen zur Taxonomie - dem Nachweis für nachhaltiges Wirtschaften. Und Nachweise zum CO2-Fußabdruck und die Nachhaltigkeitskennzahlen für Online-Tools gebe es auch noch.
Nighswonger zieht eine bittere Gesamtbilanz: "Das ist keine Konjunktur-, sondern eine Strukturkrise. Der Standort schlittert immer weiter ab. Führend ist die Bundesrepublik nur noch bei Lohn- und Energiekosten und Steuern. Dafür haben wir bei der Bürokratie den unangefochtenen Goldstandard."
Standort Deutschland fällt zurück
Daniel Stelter muss auf die Frage nach dem Zustand der deutschen Wirtschaft nicht lange überlegen. Er ist Wirtschaftsexperte, Sachbuchautor und hat Unternehmen jahrelang strategisch beraten. "Deutschland fällt im Standortwettbewerb immer weiter zurück. Das zeigt etwa die neue Studie der Schweizer Hochschule IMD. Deutschland liegt in dem Ranking auf Platz 24 - mal wieder schlechter als noch im Vorjahr", erklärt Stelter.
Die IMD lässt nicht nur das Bruttoinlandsprodukt und die Produktivität in die Studie einfließen, sondern auch politische, soziale und kulturelle Aspekte. Diese Länderliste soll zeigen, welche Volkswirtschaften es am besten schaffen, den heimischen Wohlstand zu steigern. Für Stelter ist klar: Deutschland verliere jetzt auch in seinen traditionellen Bereichen wie Automobil, Chemie und Maschinenbau. Bei Zukunftsthemen wie Digitalisierung seien deutsche Firmen schon seit langem weit abgeschlagen.
"Wir sehen das Resultat einer völlig verkorksten Energiepolitik nach rund zwanzig Jahren. Die Preise waren hierzulande auch schon vor dem Krieg gegen die Ukraine viel zu hoch - und das sind sie heute immer noch", sagt Stelter. Zudem seien die Jahre der Kanzlerschaft Merkels für die Wirtschaft verlorene Jahre gewesen: Es habe zu wenig Investitionen in die Infrastruktur gegeben, der Sozialstaat sei noch weiter ausgebaut worden, erklärt der Wirtschaftsexperte. Dazu komme noch die verschärfte Entwicklung in der Demografie, das Bildungsniveau falle weiter, und die Migrationspolitik sei falsch. "Die Ampel hat diesen Kurs fortgesetzt und ihn sogar teils noch beschleunigt", so Stelter.
Stellschrauben im Energie- und Arbeitsmarkt
Was bleibt zu tun? Für Stelter ist das Wichtigste, schnell günstigere Energie zu haben: Das könne durch ein Wiederhochfahren von noch betriebsbereiten AKW geschehen. Statt neue fossile Gaskraftwerke zu bauen, sollten verstärkt Kohlekraftwerke eingesetzt werden. Das zusätzliche CO2 könne durch das sogenannte Abscheiden herausgefiltert werden, so Stelter.
Für mehr Arbeits- und Fachkräfte sollten Ältere am Arbeitsmarkt gehalten werden - durch deutliche Steuerrabatte. Und: Das Bildungssysteme müsse reformiert werden - etwa in Kitas und Grundschulen, um vor allem Kinder mit Migrationshintergrund schon früh besser zu bilden.
"Dem Mittelstand wird nicht mehr zugehört"
Martina Nighswonders Fazit geht weit über den Tag der Industrie in Berlin hinaus. "Dem Mittelstand wird nicht mehr zugehört. Abwanderungen und Firmenpleiten werden schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Die Koalition lebt in ihrer eigenen Welt. Ob die Opposition es besser machen würde? Ich weiß es nicht."
Die Wirtschaft habe zudem in den vergangenen Jahren zunehmend mit einem Imageproblem zu kämpfen. Unternehmen würden zunehmend negativ angesehen - ebenso erwirtschaftete Gewinne, so Nighswonger. Aber ohne Gewinne keine Investitionen, und darunter leide der Standort immer mehr. Bei einem Umsatz in höherer zweistelliger Millionenhöhe pro Jahr steuere Gechem für 2024 eine schwarze Null an.
"Das kann dauerhaft nicht zufriedenstellend sein. Mein Team und ich sind mit Leib und Seele bei der Arbeit, aber Politik und Behörden schmeißen uns einen Prügel nach dem anderen zwischen die Beine."