Letzte deutsche AKW Welche Folgen der Weiterbetrieb hat
Was bedeutet es für Verbraucher, den Strommarkt und Betreiber, dass die drei deutschen Kernkraftwerke noch bis zum Frühjahr Strom liefern können? Und wie geht es danach weiter? Antworten auf einige wichtige Fragen.
Der Kanzler hat gesprochen: Auf Basis seiner Richtlinienkompetenz hat Olaf Scholz angeordnet, die gesetzliche Grundlage zu schaffen, um die Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31. Dezember hinaus bis längstens zum 15. April 2023 zu betreiben. Das entsprechende Gesetz soll bis Ende November die parlamentarischen Hürden nehmen. Welche Auswirkungen hat die Entscheidung für die Energieversorgung in Deutschland, für die betroffenen Unternehmen und die Stromkunden?
Was sind die Folgen für die Betreiber?
Isar 2 wird von der E.ON-Tochter PreussenElektra betrieben, Neckarwestheim 2 von EnBW und Emsland von RWE. Die drei Betreiber begrüßten die nun erhaltene Planungssicherheit, zumal sie im Zuge der Diskussion über die Zukunft der AKW mit erheblichen Unsicherheiten bezüglich der Personalplanung und der umfangreichen Stillegungsvorbereitungen umzugehen hatten. Die notwendige Personaldecke sei gesichert, erklärte E.ON. Es hätten sich einige Mitarbeiter bereiterklärt, nicht in den Vorruhestand zu gehen. EnBW teilte mit, erfahrenes Personal stehe zur Verfügung, weil man den Mitarbeitern bereits vor über zehn Jahren nach dem Beschluss zum Atomausstieg eine Beschäftigungsgarantie gegeben habe. Die gleichen Mitarbeiter würden auch für den Abriss der Kernkraftwerke benötigt, weil ihr kerntechnisches Know-how auch für den Rückbau wertvoll sei.
Der nun gesicherte Weiterbetrieb dürfte sich positiv auf die Bilanzen auswirken. Die Energieexpertin Deepa Venkateswaran von Bernstein rechnet für E.ON und RWE mit Erlösen von jeweils rund 300 Millionen Euro auf der Basis eines Strompreises von 180 Euro je Megawattstunde. E.ON verwies allerdings darauf, dass den Einnahmen auch Kosten für die Verlängerung gegenüber stünden. An der Börse stiegen die Aktien der Betreiber am Dienstag mit Aufschlägen von bis zu 2,5 Prozent etwa doppelt so stark wie der europäische Branchenindex Stoxx Europe 600 Utilities.
Was bedeutet das für die Strompreise?
Auch wenn die drei verbliebenen Meiler im ersten Halbjahr nur noch sechs Prozent zur deutschen Stromerzeugung beigetragen haben, gilt eine leichte Entlastung bei den Preisen durch ihren Weiterbetrieb als unbestritten. Mehrere Wirtschaftsforscher haben den Effekt unter verschiedenen Szenarien untersucht. Nach einer Studie der Universität Nürnberg-Erlangen dürften die Strompreise schon in einem ungünstigen Szenario um knapp fünf Prozent sinken. Dieses Szenario geht von einer unverändert hohen Stromnachfrage, einem deutlich höheren Gaspreis, einem ungünstigeren Wetter als 2020 und einem verzögerten Ökostromausbau aus. Das günstigste Szenario lasse sogar eine Preisentlastung von bis zu zwölf Prozent erwarten. Die Forscher des Münchener ifo-Instituts erwarten einen Preiseffekt von etwa vier Prozent.
Wird die Stromversorgung damit sicherer?
Aus Sicht der vier Übertragungsnetzbetreiber, die Anfang September die Ergebnisse ihres Stresstests vorgestellt hatten, wird die inländische Versorgung durch die Laufzeitverlängerung etwas sicherer, Garantien gebe es aber keine. "Unsere Botschaft ist ganz klar: Es ist sinnvoll und notwendig, alle Möglichkeiten zur Erhöhung der Strom-Erzeugung und der Transportkapazitäten zu nutzen", hatte der Chef des Netzbetreibers 50Hertz, Stefan Kapferer, gesagt.
Geht das AKW Emsland in den Reservebetrieb?
Besonders umstritten in der Koalition war die Rolle des AKW Emsland, an dessen Abschaltung zum Jahresende Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck festhalten wollte. Ob das Kernkraftwerk, das derzeit noch eine Leistung von 1310 Megawatt liefert, ab Januar im Leistungsbetrieb bleibt oder in den Reservebetrieb übergeht, ist nach Angaben von RWE noch nicht entschieden und soll im Zusammenhang mit den gesetzlichen Regelungen geklärt werden.
Ist das Kraftwerk für die Netzstabilität unbedingt nötig?
Das AKW Emsland sei "kein Beitrag" zur Energieversorgung in Deutschland, sagte Grünen-Co-Vorsitzender Omid Nouripour im rbb24 Inforadio. Das Atomkraftwerk liege im Energieüberschuss-Land Niedersachsen, wo die erneuerbaren Energien gut ausgebaut seien.
Tatsächlich rechnen Experten nicht mit einem wesentlichen Beitrag des Reaktors zur Netzstabilität im energiereicheren Norden. Allerdings bedeuten weitere Reservekapazitäten eine zusätzliche Sicherheit im Hinblick auf Störungen wie mögliche Sabotageakte gegen die deutsche Energieinfrastruktur.
Betrachtet man den europäischen Strommarkt, könnte Emsland aber eine Rolle spielen. Deutschland exportiert Strom in andere europäische Staaten. Energie erhält derzeit insbesondere der Partner Frankreich, wo die Jahresproduktion der Atomkraftwerke wegen diverser Probleme ein historisches Tief erreichen könnte.
Welche Sicherheitsrisiken könnte es geben?
Kritiker des Weiterbetriebs verweisen nicht nur auf die allgemeinen Risiken der Kernkraft, sondern auf ausbleibende Sicherheitsüberprüfungen bei den drei Meilern. So sei weder eine vorherige Sicherheitsüberprüfung geplant, noch solle die längst überfällige periodische Sicherheitsüberprüfung nachgeholt werden, teilte die Deutsche Umwelthilfe mit. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace wies zudem auf die Gefahr hin, die von Atomkraftwerken im Falle eines Anschlags ausgehe.
Werden neue Brennelemente gebraucht?
Nach dem Willen der Koalition sollen bis zum nun terminierten Atomausstieg im April 2023 keine neuen Brennstäbe beschafft werden. Allerdings haben einige der verbliebenen Brennelemente bereits ihr natürliches Zyklusende überschritten und können folglich nur noch eine stetig abnehmende Leistung liefern. Das ist im Kernkraftwerk Emsland bereits der Fall. "Die Anlage kann mit dem vorhandenen Brennstoff bis zum 15. April betrieben werden, allerdings mit zunehmend verminderter Leistung", teilte RWE mit. So rechnen die Netzbetreiber von einem Leistungsabfall von derzeit 1310 Megawatt bis auf 740 Megawatt im März 2023.
Isar 2 kann nach Angaben von E.ON mit den vorhandenen Brennelementen bis März 2023 laufen. Für Neckarwestheim 2 gilt laut EnBW: "Eine Stromproduktion bis zum 15. April 2023 ist mit den vorhandenen Brennelementen grundsätzlich machbar. Eine Stromproduktion über das zweite Quartal 2023 hinaus ist mit den vorhandenen Brennelementen allerdings ausgeschlossen."
Was kommt danach?
Mit der nun angestrebten gesetzlichen Lösung scheint der endgültige Atomausstieg Deutschlands zum 15. April 2023 besiegelt. "Am 15. April ist mit den Atomkraftwerken in Deutschland Schluss", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
Klar ist aber, dass die Energiekrise bis dahin nicht gelöst sein wird. Je nach der Versorgungslage mit anderen Energiequellen und der Preisentwicklung dürfte die Diskussion über die Atomkraft also auch über dieses Datum hinaus andauern. "Ob ein Weiterlaufen der Kernkraftwerke über den April hinaus notwendig wird, muss abhängig von der Versorgungs- und Preislage im Frühjahr 2023 offen und sachlich diskutiert werden", forderte heute der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).