Interview

Interview mit dem Ukraine-Experten Rainer Lindner "Eine neue Revolution ist nicht zu erwarten"

Stand: 29.09.2007 10:17 Uhr

Mit der Parlamentswahl am Sonntag nehmen die zerstrittenen politischen Kräfte in der Ukraine einen erneuten Anlauf in Richtung Stabilität. Die enttäuschten Bürger ließen sich diesmal aber schwer mobilisieren, erklärt Rainer Lindner von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit tagesschau.de.

Mit der Parlamentswahl am Sonntag nehmen die zerstrittenen politischen Kräfte in der Ukraine einen erneuten Anlauf in Richtung Stabilität. Die enttäuschten Bürger lassen sich diesmal aber schwer mobilisieren, erklärt Rainer Lindner von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Nach den Umfragen vor der Wahl wird die Partei der Regionen von Ministerpräsident und Russlandfreund Janukowitsch die meisten Stimmen bekommen. Ist die Ukraine auf dem Weg zurück zu den Verhältnissen, wie sie vor der "Orangenen Revolution" 2004 waren?

Lindner: Es wird durch einen Wahlsieg Janukowitschs keinen Rückfall geben. Es gibt in der Ukraine Parteien, die sich im freien, politischen Wettbewerb beweisen müssen. Verglichen mit Russland, wo das Wahlergebnis durchaus vom Kreml definiert wird, erleben wir in der Ukraine seit der orangenen Zeit eine gewisse Demokratisierung. Die Regierungsbildung im vergangenen Jahr dauerte zwar lange, fand aber auf demokratischer Grundlage statt.

tagesschau.de: Allerdings werfen sich die Parteien schon im Vorfeld Wahlmanipulation vor.

Lindner: Wenn es nachweislich zu Wahlfälschungen kommt, dann sind wir in der Tat bei Verhältnissen wie vor dem Herbst 2004.

Präsident Juschtschenkos Partei ist schwach

tagesschau.de: Die „Orangene Revolution“ war geprägt vom jetzigen Präsidenten Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko. Sie haben sich allerdings zerstritten. Wie sieht die politische Zukunft der beiden aus?

Lindner: Julia Timoschenkos Block hat auch im traditionell russlandfreundlichen Osten der Ukraine einen erfolgreichen Wahlkampf geführt, wo bisher die orangenen Kräfte schwach vertreten waren. Die Partei „Unsere Ukraine – Selbstverteidigung des Volkes“ um Präsident Juschtschenko bewegt sich landesweit zwischen zehn und 15 Prozent. Das ist eher mager. In den letzten Tagen beobachten wir nun eine Annäherung von Juschtschenko und Timoschenko. Juschtschenko hat erkennen lassen, dass er sich eine Rückkehr Timoschenkos auf den Posten der Premierministerin vorstellen kann. Er möchte von der Stärke Timoschenkos profitieren. Womöglich reicht die Summe aus beiden Teilen für eine Mehrheitskoalition. Gleichzeitig verhandelt er aber auch mit Janukowitschs Partei der Regionen.

tagesschau.de: Die beiden waren einst Kontrahenten. Es scheint, als hätten einige Helden von damals ihre guten Vorsätze über Bord geworfen?

Lindner: Ja. Wichtige politische Kräfte in der Ukraine haben sich in den vergangenen Monaten außerhalb der Verfassungsordnung bewegt. Zum Beispiel auch Präsident Juschtschenko: Seine Auflösung des Parlaments war von der Verfassung nicht gedeckt. Als das Verfassungsgericht sich damit auseinandersetzen wollte, hat er Richter entlassen.

Regierungsbildung wird turbulent

tagesschau.de: Das Land ist gespalten: Wie groß ist die Gefahr, dass die Ukraine nach der Wahl in Chaos und Bürgerkrieg versinkt?

Lindner: Eine neue Bürgerrevolution ist nicht zu erwarten. Die Menschen lassen sich nicht mehr ohne weiteres mobilisieren. Sie sind enttäuscht, weil die Protagonisten viele ihrer Versprechungen nicht eingelöst haben. Aber natürlich sind Kontroversen und Differenzen zwischen den politischen Lagern zu erwarten. Die Regierungsbildung wird vermutlich schleppend und mit politischen Turbulenzen vonstatten gehen.

Zur Person
Dr. Rainer Lindner ist Mitglied der Forschungsgruppe Russland/GUS bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seine Forschungsfelder umfassen die Innen- und Außenpolitk Russlands, der Ukraine und Weißrusslands sowie die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und ihren Nachbarn im Osten.

tagesschau.de: Wie wird der Ausgang der Wahl die außenpolitische Orientierung beeinflussen?

Lindner: Die Partei der Regionen von Ministerpräsident Janukowitsch hat ein Referendum angekündigt: Sie will sich vom Volk die Entscheidung absegnen lassen, der Nato nicht beizutreten. Die Partei Julia Timoschenkos ist zurückhaltend in dieser Frage. Nur Präsident Juschtschenko tritt uneingeschränkt für eine Nato-Mitgliedschaft ein. Zum europäischen Kurs bekennen sich aber alle drei Gruppierungen.

Russland übt Druck auf die Ukraine aus

tagesschau.de: Eine westliche Ausrichtung der Ukraine wird aber Russland nicht gefallen.

Lindner: Russlands Botschafter in Kiew, Tschernomyrdin, der mit Gazprom sehr eng verbunden ist, hat vor den Wahlen Druck aufgebaut. Er ließ durchblicken, dass die Höhe der Gaspreise für die Ukraine davon abhängt, ob die künftige Regierung eine Mitgliedschaft in der EU und der Nato anstrebt oder nicht.

tagesschau.de: Was hat die EU dem entgegenzusetzen?

Lindner: Sie bietet eine vertiefte Partnerschaft, aber bisher keine Beitrittsperspektive. Diese könnte aber zu einem politischen Konsens beitragen und die politische Blockade des Landes auflösen, so wie es in anderen osteuropäischen Ländern der Fall war.

Die Fragen stellte Anja Mößner, tagesschau.de