
Sozialbetrug in Deutschland Millionenschäden bei den Sozialkassen
Der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) warnt vor organisiertem Sozialbetrug durch kriminelle Netzwerke. Fehlender Informationsaustausch macht es Betrügern leicht.
Der GKV-Spitzenverband spricht von "gezieltem, bandenmäßigem Betrug, der die Solidargemeinschaft schädigt": Die Nutzung von sogenannten Scheinfirmen sei ein "relevantes Problem für das deutsche Gesundheitswesen". Laut GKV-Sprecher Florian Lanz liegt das Kernproblem im fehlenden Austausch zwischen den Trägern der Sozialversicherung: Es braucht dringend "einen besseren Informationsaustausch zwischen Krankenkassen, Rentenversicherung und Arbeitsagenturen, um solche Strukturen frühzeitig zu erkennen."
Das Problem des organisierten Sozialbetrugs hat auch die vielleicht bald neue schwarz-rote Koalition erkannt. Im Koalitionsvertrag von CDU und SPD heißt es zumindest: "Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen muss beendet werden. Einen vollständigen Datenaustausch zwischen Sozial-, Finanz- und Sicherheitsbehörden werden wir ermöglichen." Inwieweit auch die Krankenkassen zukünftig in den Datenaustausch einbezogen werden, um Betrug zu verhindern, ist noch nicht klar, denn sie gehören nicht zu den Sozialbehörden.
Strohmänner und Scheinverträge
Bundesweit geht es dabei um mehrere Millionen Euro jährlich. Das System ist schon seit Jahren bekannt. Ein Beispiel: Im Herbst 2019 wechselt eine Berliner Immobilienfirma den Eigentümer. Die Firma ist hoch verschuldet, ein wirtschaftlicher Betrieb nicht mehr erkennbar. Der neue Eigentümer und Geschäftsführer ist ein polnischer Staatsbürger, der bislang noch nicht als Unternehmer in Erscheinung getreten ist.
Offiziell haftet er jetzt für die Schulden. Doch kurz nach der Eintragung verschwindet er. Unter der beim Notar angegebenen Adresse ist er nicht mehr anzutreffen. Die Gläubiger, Krankenkassen und Finanzämter, gehen bis heute leer aus.
Ein klassischer Fall von Insolvenzverschleppung, meint Joachim Heitsch. Der Fachanwalt für Insolvenzrecht sieht darin ein weit verbreitetes Phänomen: "Das passiert laufend. Man kann sagen, dass das inzwischen ein Mengenphänomen ist."
900.000 Euro Schaden für die Krankenkasse
Heitsch warnt: Sogenannte "insolvente Firmenhüllen" wie die der Berliner Immobilienfirma werden nicht nur eingesetzt, um Insolvenzverfahren hinauszuzögern, sondern auch gezielt für alle möglichen Arten von Sozialbetrug genutzt. Eine weitere Masche beschreibt Heitsch so: "Sie melden auf eine GmbH, die schon pleite ist, mal eben 30 Arbeitnehmer an, zahlen aber keinen Pfennig an Sozialversicherungsbeiträgen."
Genau das geschieht im Fall der Berliner Immobilienfirma. Kriminelle Hintermänner des verschwundenen Strohmanns melden über das Unternehmen rund 40 Scheinbeschäftigte bei insgesamt neun Krankenkassen an - auf Basis gefälschter Arbeitsverträge. Später stellt sich heraus, die gemeldeten Personen arbeiten nicht, viele halten sich im Ausland auf, manche sind gar nicht auffindbar. Sozialbeiträge werden keine abgeführt - nach RBB-Recherchen über Jahre hinweg. Trotzdem haben die angeblich Beschäftigten jetzt Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung: Kranken- und Arbeitslosengeld.
Kommt es zu einer Krankschreibung, kann der angebliche Arbeitgeber sogar die Erstattung der Lohnfortzahlung beantragen - obwohl er nie Beiträge gezahlt hat. Die angeblich Beschäftigten haben natürlich auch Anspruch auf ärztliche Behandlung.
Die Beitragsschulden der Immobilienfirma belaufen sich nach RBB-Recherchen auf rund 900.000 Euro. Erst drei Jahre nach der Übergabe an den polnischen Geschäftsführer stellt die AOK Nordost einen Insolvenzantrag.
Einfallstor ins deutsche Sozialversicherungssystem
Für Ralf Selle, den Beauftragten zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei der AOK Nordost, sind "Scheinfirmen ein Einfallstor in das deutsche Sozialversicherungssystem."
Die Kassen, so Selle, haben bislang kaum eine Chance, den Betrug aufzudecken. Sie müssten sich erstmal auf die Angaben der Arbeitgeber verlassen: "Die Krankenkassen müssen davon ausgehen, dass die gemeldeten Daten korrekt und rechtmäßig sind - eigene Kontrollen sind nicht vorgesehen." In der Praxis führt das dazu, dass Menschen über lange Zeit versichert bleiben und Leistungen beziehen, obwohl sie nicht arbeiten und keine Beiträge für sie abgeführt werden.
Beitragssäumnisse werden häufig erst spät erkannt. Das gesetzlich vorgesehene Verfahren - Mahnung, Pfändung, Insolvenzantrag - kann dauern. "Dieser Prozess kann sich - je nach Fall - über viele Monate hinziehen, vor allem dann, wenn zusätzlich ein Inhaberwechsel erfolgt", sagt Selle.
Kriminelle Strukturen sind bundesweit tätig
Dem RBB vorliegende Dokumente und Gerichtsurteile zeigen: Hinter solchen Scheinanmeldungen stehen oftmals organisierte Netzwerke. In Sachsen nutzten mehrere Angeklagte familiäre und wirtschaftliche Verbindungen, um sich gegenseitig anzumelden, Gehälter zu fingieren und gezielt Krankmeldungen einzureichen. Der Schaden: rund 600.000 Euro.
In Berlin sprach das Landgericht im Jahr 2023 einen Angeklagten wegen Dutzender Fälle von Leistungsbetrug schuldig. Das Vorgehen ähnelte dem in der beschriebenen Immobilienfirma: Ein Unternehmen ohne reale Geschäftstätigkeit, Anmeldung von Scheinarbeitnehmern, Anträge bei verschiedenen Krankenkassen. Erstattung von Krankengeld nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG).
Der entstandene Schaden: knapp eine halbe Million Euro. Besonders bemerkenswert: Nach Ansicht der Richter hätten die Kassen es dem Täter "durchaus leicht gemacht", da "Prüfungen, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich durchgeführt worden" seien.
Mehrere zusammenhängende Fälle in NRW
In Nordrhein-Westfalen gibt es derzeit nach RBB-Recherchen mehrere zusammenhängende Fälle: mehrere Arbeitgeber, gleichlautende E-Mail-Adressen, identische Kontoverbindungen, gleiche Nationalität, wiederkehrende Namen und Adressen - alles Hinweise auf gezielte Zusammenarbeit mehrerer Tatverdächtiger. Teilweise erfolgten Anmeldungen gleichzeitig bei verschiedenen Krankenkassen. Das Ziel war anscheinend, möglichst viele Leistungen zu beantragen, bevor Unregelmäßigkeiten auffallen.
Die Berliner Firma ist mittlerweile im Zuge des Insolvenzverfahrens aufgelöst. Die 40 Scheinangestellten, der polnische Geschäftsführer und seine Hintermänner sind weiterhin nicht auffindbar. Nach RBB-Informationen war die Firma Teil eines größeren internationalen Netzwerks.