EU-Grenzschutzagentur Neuer Ärger für Frontex
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat laut einer Recherche von NDR und WDR Schwierigkeiten mit ihrer neuen Eliteeinheit. Für Unruhe sorgen zudem interne Untersuchungen nach neuen Pushback-Vorwürfen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat mit mehreren internen Problemen zu kämpfen. Das zeigt eine Recherche von Reschke Fernsehen. Es handelt sich dabei zum einen um Schwierigkeiten bei der neuen Frontex-Elitetruppe, dem Standing Corps. Dazu kommen neuerliche interne Untersuchungen zur möglichen Verwicklung in illegale Pushbacks von Migranten.
Der europäischen Agentur mit Sitz in Warschau droht damit ein weiteres Mal Ärger - und der neue Direktor Hans Leijtens, der erst gut ein Jahr im Amt ist, muss sich die Frage stellen lassen, ob der von ihm angekündigte Neustart tatsächlich gelingt.
Das neue Standing Corps gilt als das Prestigeobjekt der EU-Kommission im Kampf gegen irreguläre Migration und grenzüberschreitende Kriminalität. Bis 2027 sollen schrittweise insgesamt 10.000 Mitarbeiter zur Verfügung stehen - entweder direkt bei Frontex beschäftigt oder von den EU-Mitgliedsländern abgestellt. Die politische Entscheidung, in wenigen Jahren eine solch große Einheit aufzustellen, kam 2019 für viele überraschend.
Kritik aus mehreren Mitgliedsstaaten
Die neue Recherche zeigt jetzt, dass gleich mehrere EU-Mitgliedsstaaten intern deutliche Kritik an der neuen Eliteeinheit geübt haben. Das geht aus einem Sitzungsprotokoll des Strategischen Ausschusses für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA) hervor, das für diese Recherche exklusiv eingesehen werden konnte. Das Papier stammt vom Februar. In dem Gremium tauschen sich hochrangige europäische Beamte aus.
Ein paar Länder lobten demnach zwar die neue Truppe. Vor allem Staaten an der EU-Außengrenze äußerten sich jedoch kritisch. Spanien etwa erklärte, das Standing-Corps-Personal sei derzeit oft nicht effektiv einsetzbar. Griechenland kritisierte, Auswahlverfahren, Ausbildung und Kapazitätsaufbau der neuen Einheit seien "verbesserungswürdig".
Mehrere Länder, darunter Italien und Frankreich, monierten, dass die Einheit nicht gut genug "auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Mitgliedsstaaten" abgestimmt sei.
"Massive Aufgabe"
Konfrontiert mit den Vorwürfen erklärte die EU-Kommission, Frontex sei zum Nachbessern angehalten. Frontex selbst antwortete, dass der Aufbau der ersten uniformierten EU-Einheit eine "massive Aufgabe" bedeute und es dafür kein Vorbild gebe. Trotz verschiedener Herausforderungen befindet sich die Behörde nach eigener Aussage auf dem richtigen Weg, im Jahr 2027 auf 10.000 Grenzbeamte zugreifen zu können.
Wie die Recherche nahelegt, lassen EU-Kommission und Frontex das neue Standing Corps bislang aber größer erscheinen, als es im Einsatz tatsächlich ist. Den Planungen zufolge sollten Ende 2023 bereits rund 7.500 der künftig 10.000 Personen bereitstehen.
Tatsächlich waren aber zu keinem Zeitpunkt so viele Personen für Frontex im Einsatz. Denn zahlreiche Posten werden durch Mitgliedsstaaten nur für mehrere Monate und nicht für ein ganzes Jahr besetzt und manche Beamte der Reserve wurden bislang überhaupt nicht eingesetzt. Umgerechnet in Vollzeitstellen waren bei Frontex demnach Ende 2023 keine 7.500 sondern hochgerechnet lediglich etwa 4.200 Personen im Standing Corps eingesetzt.
Neue Pushback-Vorwürfe
Für Unruhe in der EU-Agentur sorgen zudem neue Pushback-Vorwürfe. Unter Pushbacks versteht man das Zurückdrängen von Migranten aus der EU, ohne dass sie einen Asylantrag stellen können. In der Vergangenheit waren immer wieder Fälle öffentlich geworden, in denen Grenzschützer Migranten teilweise mit Gewalt an einer Einreise in die EU gehindert haben.
Die Verwicklung in Pushbacks einzelner Mitgliedsstaaten hatte Frontex in eine tiefe Krise gestürzt. Der langjährige Direktor Fabrice Leggeri trat wegen der Vorwürfe 2022 von seinem Amt zurück. Sein Nachfolger Leijtens trat mit dem Versprechen an, keine solchen Pushbacks mehr zu dulden.
"Ich bin dafür verantwortlich, dass meine Leute sich nicht an etwas beteiligen, das Pushback genannt wird", so der Niederländer 2023. Wie die Recherche jetzt aber zeigt, gab es zuletzt mindestens zwei Vorfälle, bei denen Migranten offenbar zurück in türkische Gewässer geschickt wurden.
Frontex-Direktor Leijtens trat mit dem Versprechen an, keine Pushbacks mehr zu dulden.
Maskierte drohen Migranten mit Stöcken
Der erste Vorfall ereignete sich am 25. Januar 2024: Videoaufnahmen zeigen maskierte Männer, die sich mit einem kleinen Schiff, das offensichtlich zur griechischen Küstenwache gehört, einem vollen Schlauchboot mit etwa 30 Personen nähern. Anschließend ist zu sehen, wie die Maskierten den Migranten mit Stöcken drohen. Im Hintergrund erkennt man ein Schiff der lettischen Küstenwache, das in der Ägäis für Frontex im Einsatz ist.
Wenige Stunden später wurde das Schlauchboot offenbar in türkischen Gewässern von dortigen Behörden aufgegriffen. Ein Vergleich der Mitteilung der türkischen Küstenwache zu dem Vorfall und den vorliegenden Videoaufnahmen legt nahe, dass es sich um dasselbe Boot mit denselben Personen handelt.
In türkische Gewässer zurückgedrängt?
Der zweite mögliche Pushback, bei dem Frontex offenbar nicht einschritt, soll am 19. Februar 2024 stattgefunden haben. Am frühen Morgen saßen der Recherche zufolge rund 30 Personen auf einem Schlauchboot - Männer, Frauen und Kinder. Als andere Boote in der Nähe waren, riefen manche um Hilfe. Das zeigen Videoaufnahmen, die NDR und WDR vorliegen. Eines der größeren Schiffe in der Nähe trägt die Fahne der bulgarischen Küstenwache und ist für Frontex im Einsatz.
Die um Hilfe rufenden Migranten wurden anschließend jedoch nicht in Griechenland in Sicherheit gebracht, sondern gelangten schließlich in türkische Gewässer. Ein Augenzeuge berichtete den Reportern später, griechische Beamte hätten das Schlauchboot in türkische Gewässer zurückgedrängt. Zweifelsfrei überprüfen lässt sich diese Aussage nicht.
Mögliche Pushbacks rekonstruiert
Reschke Fernsehen hat diese zwei möglichen Pushbacks zusammen mit der Berliner Rechercheagentur Forensis rekonstruiert. Für die Analysen wurden Gespräche mit Augenzeugen geführt und Aufnahmen ausgewertet, die von Personen auf Schlauchbooten gemacht wurden und zuerst mit der norwegischen NGO Aegean Boat Report geteilt wurden.
Forensis konnte durch einen visuellen Abgleich die Gebirgsketten im Video mit der echten Landschaft vergleichen und so die mutmaßlichen Tatorte genauer bestimmen. Demnach ereigneten sich beide Vorfälle in griechischen Gewässern. Es gibt noch weitere Hinweise, dass sich die Vorfälle in der EU zugetragen haben: Darauf deuten auch Handy-Standortdaten hin, die von Personen auf den Booten übermittelt wurden.
Die griechische Küstenwache erklärte dagegen, das Retten von Menschenleben auf hoher See sei für sie absolut verpflichtend. Der eigene Einsatz werde stets in voller Übereinstimmung mit geltendem Recht ausgeführt: "Die griechische Küstenwache weist deshalb alle Vorwürfe bezüglich der genannten vorgeworfenen Pushbacks zurück", hieß es.
Keine rechtliche Definition von Pushbacks
Es gibt keine rechtliche Definition für Pushbacks. Pushbacks, also Zurückschiebungen, gelten aber allgemein als illegal, wenn Personen am Stellen eines Asylantrages gehindert und zurück über die EU-Außengrenze gedrängt werden.
Frontex-Beamte sind laut einem Handbuch sogar aufgefordert, "proaktiv Personen zu identifizieren und über ihre Rechte aufzuklären, die sich möglicherweise um internationalen Schutz bemühen möchten". Frontex kann am Ende aber immer nur bedingt eigene Entscheidungen treffen. Bei gemeinsamen Operationen mit nationalen Behörden liegt die Einsatzleitung nämlich beim jeweiligen Mitgliedsstaat.
Frontex bestätigte auf Nachfrage, dass beide Vorgänge und die mögliche Verwicklung von Frontex eine interne Prüfung ausgelöst haben. Konfrontiert mit den Aufnahmen erklärte Frontex-Chef Leijtens, seine Leute seien angehalten, Menschen in Seenot zu retten.
Angesichts der neuen Vorwürfe sagte Leijtens im Interview mit Reschke Fernsehen: "Wir sind eine moderne Agentur und wir halten europäische Werte hoch". Frontex-Personal dürfe nicht zuschauen, wenn direkt vor seinen Augen illegale Pushbacks durchgeführt würden. "Ich möchte, dass sie wirklich etwas unternehmen“, sagte Leijtens mit Blick auf sein Personal. "Sie sollen sich nicht zurücklehnen und sich ausruhen, weil sie meinten, da mache ein anderes Land halt seine Sachen."
Frontex leitete zu beiden Vorfällen sogenannte Serious Incident Reports in die Wege - so heißen interne Untersuchungen zu besonderen Vorfällen. Seitens Frontex heißt es auf Anfrage, die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen.
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