Gesundheitsminister Karl Lauterbach und RKI-Präsident Lothar Wieler
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Corona-Politik Eine Frage des Risikos

Stand: 27.11.2024 17:00 Uhr

Im Februar 2022 wollte das Robert Koch-Institut das Corona-Risiko herabstufen. Doch Gesundheitsminister Lauterbach verhinderte dies monatelang. Das zeigen interne E-Mails aus der Zeit zwischen ihm und RKI-Chef Wieler, die WDR, NDR und SZ vorliegen.

Während der Corona-Krise war Lothar Wieler auch nachts im Dienst. Am 3. Februar 2022 schrieb der damalige Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) um 4.28 Uhr eine E-Mail an den Bundesgesundheitsminister. "Lieber Herr Lauterbach", so Wieler, "wir haben gestern im Krisenstab die Risikobewertung besprochen." Das RKI wolle die Corona-Gefahr von "sehr hoch" auf "hoch" herabstufen, "da die Krankheitsschwere von Omikron geringer ausfällt als die von Delta".

Um die Mittagszeit antwortete ihm Karl Lauterbach: "Die Herabstufung der Risiko-Bewertung halte ich für problematisch." Der Minister verwies auf die "hohen Fallzahlen" und schrieb, dass die Herabstufung "insbesondere vor dem Treffen der Ministerpräsidentenkonferenz das falsche Signal" sei.

Nahm Lauterbach unangemessenen Einfluss?

Nach Veröffentlichung der RKI-Protokolle im Juli dieses Jahres hat die Frage, ob der Gesundheitsminister unangemessen Einfluss auf die Risikobewertung des RKI genommen hat, schon einmal für Aufregung gesorgt. Doch in den RKI-Protokollen ist stets vom "Gesundheitsministerium" die Rede.

Die Rolle, die Lauterbach selbst in dieser Auseinandersetzung spielte, wird erst jetzt klar, durch die E-Mails, die der Minister und der RKI-Präsident in dieser Zeit geschrieben haben und die WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) vorliegen. Demnach verhinderte der Minister über Monate die vom RKI befürwortete Herabstufung.

Wochenlanger Mailwechsel

Vorangegangen war ein wochenlanger Mailwechsel. Am 15. Februar unternahm Lothar Wieler erneut einen Versuch: "Lieber Herr Lauterbach", schrieb er, "Sie hatten mir in der vorletzten Woche mitgeteilt, die Risikobewertung nicht vor der morgigen MPK auf unsere Website zu stellen. Ich schlage vor, dass wir das Online-Stellen der Risikobewertung an diesem Freitag gemeinsam absprechen."

Drei Tage später schien Lauterbach offenbar kurzzeitig bereit, das Risiko herabzustufen. Wieler hielt am 18. Februar fest: "Danke für das gute Gespräch. Ich fasse nochmals kurz zusammen: Das RKI stellt nächste Woche die Risikobewertung (sehr hoch auf hoch) auf die Website."

Doch Lauterbach änderte erneut seine Meinung. Stattdessen sollte die Risikobewertung überarbeitet werden. Vier Tage später schrieb Wieler an Lauterbach: "Wir haben im Nachgang unseres Telefonats noch zwei Passagen angepasst. Bitte geben Sie mir einen Hinweis, ansonsten stellen wir wie vereinbart die Risikobewertung im Laufe des morgigen Mittwochs auf unsere Seite."

"Kein Konsens" zwischen Wieler und Lauterbach

Eine Antwort Lauterbachs auf diese E-Mail ist nicht bekannt. Allerdings hält das Protokoll des RKI-Krisenstabs einen Tag später, am 23. Februar 2022, fest: "Kein Konsens zur Veröffentlichung, wird zwischen Präsident und Minister am 24.2. besprochen. Voraussichtliche Veröffentlichung auf RKI Website am 25.2.2022."

Doch auch dieses Datum verstrich ohne Herabstufung. Stattdessen findet sich in den RKI-Protokollen unter diesem Datum nun der Hinweis: "Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch wurde vom BMG abgelehnt."

Im Robert Koch-Institut war man offenbar zunehmend verärgert über den Minister. Was sollte man machen, wenn der Minister die Herabstufung, die man selbst für richtig und angemessen hielt "verwehrt"? Im Krisenstab wurde diskutiert, das "sehr hoch", einfach von der Website zu nehmen, verwarf dies aber als "sehr eskalierend".

Risiko-Herabstufung im Mai 2022

Danach wurde im Krisenstab offenbar wochenlang nicht mehr über die Risikobewertung gesprochen. Am 20. April unternahm Wieler erneut einen Versuch. "Die aktuell positive Entwicklung der Pandemie führt glücklicherweise dazu, dass wir die Risikobewertung anpassen", schrieb er ans BMG. Und einen Tag später direkt an den "lieben Herr Lauterbach": "Anbei die überarbeitete Risikobewertung. Wie vereinbart geben Sie mir dann ein Signal im Hinblick auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung in der nächsten Woche". Vier Tage später findet sich in den RKI-Protokollen der Hinweis: "Warten auf Rückmeldung des BMG. Grundsätzlich ist Minister einverstanden, meldet sich aber noch einmal."

Doch wieder passierte erst einmal nichts. Am 5. Mai, mehr als drei Monate nach seinem ersten Anlauf, die Bewertung zu senken, schien er nun am Ziel. Wieler schrieb an Lauterbach: "Ich gehe davon aus, dass wir die Risikobewertung heute online stellen falls wir bis 12 Uhr heute keine gegenteilige Information erhalten." Lauterbach selbst antwortete nicht mehr. Dafür der Leiter seiner Leitungsabteilung, Boris Velter: Der Text könne nun veröffentlicht werden, schrieb er. Und fügte hinzu: "Er sollte wegen der Grundsensibilität bitte dennoch ohne mediale Ankündigung / Begleitung das Licht der Welt erblicken."

Das monatelange Hin und Her im Jahr 2022 stellt Lauterbachs Darstellung in Frage, dass er dem RKI in fachlicher Hinsicht keine politischen Weisungen erteilt habe. "In die wissenschaftlichen Bewertungen des Instituts mischt sich die Politik nicht ein, ich auch nicht", erklärte Lauterbach noch im Frühjahr 2024 kategorisch.

RKI: Ministerium für Krisenmanagement zuständig

Aber ist die Frage, wie hoch das Risiko durch das Coronavirus ist, keine wissenschaftliche Bewertung? Auf Anfrage teilt das RKI mit, dass das Institut der Fachaufsicht des Gesundheitsministeriums unterstehe. "Die Risikobewertungen des RKI beruhen auf wissenschaftlichen Kriterien, können aber nicht als grundgesetzlich geschützte Wissenschaft verstanden werden", so die Sprecherin des RKI. Schließlich habe die Risikobewertung "einen normativen Charakter und liegt am Übergang zum Krisenmanagement". Und für Letzteres sei nun mal das Ministerium verantwortlich.

Gesundheitsminister Lauterbach sieht in seinem Vorgehen keinen Widerspruch. "Wenn aus dieser wissenschaftlichen Arbeit politische Schlüsse gezogen werden müssen, dann ist es meine Aufgabe, das zu tun", sagt er gegenüber WDR, NDR und SZ.

Lothar Wieler selbst will Fragen zu dem Thema nicht beantworten. Klar ist allerdings, dass der RKI-Chef und der Gesundheitsminister die Pandemie-Gefahr damals unterschiedlich beurteilten. Während Wieler sich in der Bundespressekonferenz Anfang Februar 2022 "optimistisch" gab und erkannte, dass sich mit Omikron die Lage grundsätzlich änderte, blickte Lauterbach vor allem auf die hohe Zahl der Infizierten, die Patienten auf den Intensivstationen und die Todesfälle.

Länger im Alarmmodus

Tatsächlich lagen Anfang Februar 2022 bundesweit noch 2.300 Menschen mit Corona auf Intensivstationen - auf dem Höhepunkt der Welle im Dezember 2021 waren es noch knapp 5.000. "Eine Krankheit, an der pro Tag 200 bis 300 Menschen sterben, da kann ich nicht sagen, dass das Risiko nicht sehr hoch ist", so Lauterbach.

Allerdings scheint es so, als ob der Minister länger im Alarmmodus verharrte als viele Wissenschaftler. Epidemiologen aus Südafrika hatten schon im Dezember 2021 darauf hingewiesen, dass Omikron zwar wesentlich ansteckender sei, aber nur die wenigsten Infizierten in die Klinik müssen. Mitte Januar 2022 hatten dann US-Forscher um den renommierten Harvard-Epidemiologen Marc Lipsitch eine Auswertung von mehr als 50.000 Omikron-Patienten aus Kalifornien veröffentlicht, die zeigte, dass sich die Sterblichkeit gegenüber der Delta-Variante um mehr als 90 Prozent verringerte.

Deutschland hielt lange an hoher Risikostufe fest

Während Dänemark zum 1. Februar 2022 alle Maßnahmen aufhob, Norwegen seit dem 12. Februar selbst auf Masken und Isolation verzichtete und auch die Schweiz fast alle Maßnahmen zurückfuhr, hielt Deutschland unter Lauterbach weiter an der Corona-Risikostufe "sehr hoch" fest. Dabei riet selbst die Europäische Seuchenbehörde ECDC zu einer Herabstufung, wenn 75 Prozent der Bevölkerung geimpft seien, wie der RKI-Krisenstab in seinen Protokollen festhält. 75 Prozent Erstimpfungen erreichte Deutschland bereits am 27. Dezember 2021, 75 Prozent Zweitimpfungen am 25. Februar 2022.