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Interview mit DDR-Oppositionellen Mit Zeitschaltuhren die Stasi ausgetrickst

Stand: 05.05.2009 20:34 Uhr

Kanzlerin Merkel hat in der Gedenkstätte Hohenschönhausen an die Opfer der Stasi erinnert. Der Journalist Siegbert Schefke wurde jahrelang observiert. "Operativer Vorgang Satan" nannte die Stasi ihn. Im Gespräch mit tagesschau.de erzählt er, wie er den Staat bekämpfte.

tageschau.de: Warum sind Sie in die Opposition gegangen in der DDR?

Siegbert Schefke: Ich wollte diese verordnete Diktatur nicht mehr hinnehmen. Ich war es einfach leid, mir ständig vorschreiben zu lassen, was ich darf und was ich nicht darf. Es war ein Entwicklungsprozess, den ich als junger Mensch durchgemacht habe, bis ich zu radikaleren Mitteln gegriffen habe, um den Staat zu bekämpfen.

Zur Person
Siegbert Schefke, Jahrgang 1959, studierte an der Hochschule für Bauwesen. 1986 war er Mitbegründer der Umweltbibliothek in Berlin. Ab 1987 arbeitete er als freiberuflicher Fotograf, Journalist und Kameramann für verschiedene politische TV-Magazine und westliche Zeitungen. Er dokumentierte die Umweltzerstörung und den sich formierenden Widerstand in der DDR.

1989 lieferte er zusammen mit Aram Radomski die ersten Bilder von den Leipziger Montagsdemonstrationen. Heute arbeitet Schefke für den MDR und ARD-aktuell.

tagesschau.de: Was ist passiert?

Schefke: Zum Beispiel kamen wir 1982 oder 1983 von einer Reise nach Ungarn zurück. Wir hatten uns dort ein paar West-Bücher gekauft, unter anderem "Ansichten eines Clowns" von Heinrich Böll. Das hat uns der Zoll weggenommen. Das kränkt einen jungen Menschen, wenn er sich Bücher wegnehmen lassen muss. Danach habe ich erfahren, dass Böll in dem Buch auf ein paar Seiten etwas abfällig über Leipzig schreibt. Aber, mein Gott, wie sensibel doch die Sicherheitskräfte waren.

Ich habe mein Studium 1985 beendet, musste es aber schon 1982 unterbrechen wegen einer Unterschriftenaktion. Wir haben dann 1986 die Umweltbibiothek in Ost-Berlin gegründet, ein Informationszentrum im Keller einer Kirche, und Untergrundzeitungen in der ganzen Republik verteilt. Aber ich habe festgestellt, dass man eigentlich immer die Gleichen erreicht: die, die eigentlich schon wissen, was in der DDR schief läuft.

tagesschau.de: Sie haben dann Fernsehbeiträge fürs West-Fernsehen gedreht. Wie kam es dazu?

Schefke: Der Aktionsraum wurde immer größer. Ein Freund war 1983 auf ganz schäbige Weise ausgebürgert worden. Er ist direkt aus dem Gefängnis in den Zug nach Westen gesetzt und angekettet worden und wurde dort vom West-Schaffner befreit. Dann gab es den Redaktionsleiter von "Kontraste", Jürgen Engert, der das Abitur nicht machen durfte in Dresden und deshalb in den 50er Jahren in den Westen gegangen ist. Und dann meinen Mitstreiter Aram Radomski, der wegen nichts sechs Monate im Gefängnis gesessen hatte. 

Crashkurs beim West-Kameramann

tagesschau.de: Sie haben sich dann mit den anderen zusammengetan?

Schefke: Wir haben irgendwann beschlossen, ernst zu machen. Roland Jahn von "Kontraste" - der damals gefesselt in den Zug gesetzt wurde - besorgte uns Kameras. Wir haben in einem Crashkurs bei einem West-Berliner Kameramann gelernt, wie man fernsehtauglich arbeitet. Dann sind so knapp 30 Beiträge entstanden, der bekannteste von der Montagsdemo in Leipzig vom 9. Oktober 1989. Der wurde von einem "Spiegel"-Redakteur in den Westen geschmuggelt. In den Tagesthemen sagte Hanns-Joachim Friedrich in der Moderation, die Bilder seien von einem italienischen Kamerateam gedreht. Damit keine Spur in die DDR und zu uns führte.

tagesschau.de: Aber die Stasi hatte Sie doch längst im Visier.

Schefke: Ich habe mich dieser Tage mit meinem hauptamtlichen Stasi-Offizier getroffen. Er hatte sich bei mir gemeldet. Bei unserem Treffen sagte er, er habe sich jahrelang nur mit dem "Operativen Vorgang Schefke" - so hieß das im Stasi-Deutsch - beschäftigt. Es bedeutet, dass zwei oder drei Stasi-Leute nur damit beschäftigt waren, sich mit dem "Vorgang Schefke" zu befassen, ihn zu beobachten, Tagesgewohnheiten festzuhalten, den Freundeskreis auszumachen. Ziel war es, mich ins Gefängnis zu bringen.

Er hat mir den Namen "Satan" gegeben, nicht "Operativer Vorgang Schmetterling" oder "Briefmarkensammler". "Satan" ist schon etwas Bewundernswertes. Er sagte mir: "Herr Schefke, Sie waren der Cleverste von allen."

Über Dachböden der Stasi entwischt

tagesschau.de: Woran hat er das festgemacht?

Schefke: Ich habe mich irgendwann um keine Gesetze mehr geschert. Wie die Wochenzeitung "Die Zeit" einmal über mich und meinen Teamkollegen Aram schrieb: die "beiden Video-Desperados".

tagesschau.de: Wie lief die Überwachung ab?

Schefke: Als ich zum Beispiel an jenem 9. Oktober nach Leipzig fahren wollte, da standen  im Innenhof von meiner Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg vier Stasi-Leute. Ich kam also aus meiner Wohnung nicht heraus. Also habe ich in meiner Wohnung Zeitschaltuhren eingebaut, bin übers Dach aus meiner Wohnung ausgestiegen, bin über die zusammenhängenden Dachböden vorgelaufen, wurde da von einem Freund abgeholt, wir haben zwei Mal die Autos getauscht und sind dann nach Leipzig gefahren. Wir haben unsere Aufnahmen gemacht und dann an einen Diplomaten übergeben, der hat sie in den Westen gebracht.

Nachts bin ich wieder in meine Wohnung eingestiegen und die Stasi stand immer noch da und hatte nichts gemerkt. Über die Zeitschaltuhr war das Licht an- und ausgegangen und ebenso Radio und Fernseher, sodass Leben in der Bude zu sein schien. Der Stasi-Offizier hat mir jetzt erzählt, dass er erst Wochen nach der Maueröffnung erfahren hat, wie ich aus der Wohnung gekommen bin. Das war wirklich ein Meisterstück.

Da musste doch der BND dahinterstecken

tagesschau.de: Wieso hat die Stasi Sie eigentlich nicht festgenommen?

Schefke: Ich war kein Unbekannter. Sie wussten genau, wenn sie mich einsperren, hätte es zwar für eine "Spiegel"-Titelgeschichte nicht gereicht, aber für einen größeren Artikel durchaus; der war ja schon vorbereitet im Falle einer Verhaftung. Außerdem gab es nur zwei Personen, die wussten, wie ich Fernsehen mache gemeinsam mit meinem Freund Aram Radomski. Zum Beispiel zur Kassetten-Übergabe mit den Fernsehaufnahmen habe ich nie jemanden mitgenommen.

Fernsehen war damals etwas ganz Großes. Wenn ein politisches Magazin lief auf den West-Kanälen, das hat die DDR-Bevölkerung geguckt - und zwar mit traumhaften Einschaltquoten. Darüber wurde dann geredet. Das heißt, wir haben in die Wohnzimmer der DDR gesendet mit dem Material, das wir in den Westen geschmuggelt hatten. Und es war unvorstellbar, auch für die Stasi, dass einfach zwei Leute im Osten und einer im Westen und dann noch ein Diplomat Fernsehen machen. Alle dachten: Da muss es doch mindestens eine vom Bundesnachrichtendienst geführte Gruppe geben, eine im Osten und eine im Westen.

tagesschau.de: Aber Sie sind trotzdem verraten worden?

Schefke: Ja, mein drittbester Freund hat der Stasi verraten, wo ich bin. Aber da waren wir schon nicht mehr in Leipzig. Ich hatte gegenüber diesem Freund überhaupt kein Misstrauen, denn wir waren jahrelang eng befreundet. Heute weiß ich aus meinen Stasi-Akten, dass er ein monatliches Spitzelgeld bekommen hat. Er hat mit diesem Vertrauensbruch etliche Zehntausend Mark verdient. Das macht einen schon wütend. Das weiß ich so seit 1993/94. Wir haben uns danach noch ein- oder zweimal getroffen, aber meine Bedingung war, dass er das Spitzelgeld Amnesty International spendet. Dazu war er nicht bereit.

"Wir wollten den Staat beseitigen"

tagesschau.de: War der DDR-Staat durchdrungen von der Stasi?

Schefke: Ich war gestern erst in der ehemaligen Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Ich bin nach wie vor erschüttert, wie viele Tausend Leute allein dort gearbeitet haben.

Und stellen Sie sich mal vor: Ein Offizier der Staatssicherheit hat sich mehr als drei Jahre nur mit Schefke beschäftigt, 15 Spitzel habe er auf mich angesetzt, sagte er. Ich habe sogar 22 gefunden in meinen Akten, die Informationen über Treffpunkte abgeliefert oder Gedächtnisprotokolle über Sitzungen in unserer Umweltbibliothek oder in unserem Friedenskreis verfasst haben.  Wir waren ja keine normalen Bürger. Normalbürger mussten sich nicht fürchten, dass sie bespitzelt wurden. Aber wir wollten den Staat beseitigen.

tagesschau.de: Es gibt ja nach wie vor die Diskussion: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Schefke: Natürlich war sie ein Unrechtsstaat. Wir waren eingemauert. Wenn ich heute Filme sehe über die Zeit, in denen es ja gerne so ein bisschen lustig zugeht nach dem Motto "Ampelmännchen gerettet", kann ich das nicht nachvollziehen. Da war nichts lustig. Ich durfte zum Beispiel seit 1986 nicht mehr die DDR verlassen, auch nicht Richtung Osten. Weil die verhindern wollten, dass wir uns mit der Charta 77 oder der polnischen Solidarnosc treffen. Wenn man als junger Mann nicht einmal die Ost-Welt sehen darf, das ist doch Unrecht.

tagesschau.de: Es gab ja viele, die sich angepasst haben. Warum haben Sie sich aufgelehnt?

Schefke: Weil ich wusste, dass viele sich abfinden und die Repressalien und Zustände vielleicht verdrängen. Deshalb wollte ich ja in die Wohnzimmer der DDR senden über Umweltverschmutzung, über Städteverfall, über Wahlfälschung. Es ein schönes Gefühl, wenn man beim Bäcker ansteht und die Frau in der Schlange vor einem sagt: "Haste gestern 'Kontraste' in der ARD gesehen, Mensch, die haben ja so etwas von recht und wir sehen das alles gar nicht mehr." Und da dachte ich: "Die kriegste bald. Die müssen noch zwei oder drei Mal gucken und dann mucken sie auch ein bisschen lauter auf." Das alles dann so schnell gehen würde, hat ja keiner geahnt.

Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de