Thüringen Ministerpräsidentenwahl mit ungewissem Ausgang
Am Donnerstag will sich Mario Voigt von der CDU zum neuen Ministerpräsidenten in Thüringen wählen lassen. Seine Brombeer-Koalition hat aber keine Mehrheit und die Angst vor einem Desaster wie bei der Kemmerich-Wahl ist groß. Wie läuft die Wahl ab?
1. So einzigartig ist die politische Ausgangslage
Einfach ist in Thüringen nichts. Nach der Landtagswahl im September kommt die frisch geschmiedete Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD auf 44 von 88 Sitzen - sie hat keine eigene Mehrheit.
Mario Voigt bräuchte am Donnerstag im ersten und zweiten Wahlgang also mindestens eine Stimme von Linke oder AfD, um Chef einer neuen Regierung zu werden. Nach langem Ringen hat die Brombeere am Dienstag deshalb der Linke ein Angebot gemacht. CDU-Chef Voigt spricht von einem "3 plus 1-Format":
Zwischen den vier Fraktionen soll es ein monatliches Gespräch geben - auf Ebene der parlamentarischen Geschäftsführer. Die Linke soll Ideen bei wichtigen Reformvorhaben einbringen können. Die CDU erwartet im Gegenzug, dass am Donnerstag die Wahl Voigts "vernünftig funktioniert". Zudem soll danach zügig ein Haushalt aufgestellt und verabschiedet werden - denn auch für dieses wichtige Vorhaben braucht die Brombeere eine Mehrheit.
Es ist möglich, dass eine Lösung gefunden werden kann. Christian Schaft | Linke-Fraktionschef
Hintergrund ist, dass die Linke in den vergangenen Wochen wiederholt auf eine schriftliche Vereinbarung gepocht hatte, um später im Landtag auch Spielregeln für gemeinsame Abstimmungen festzuhalten. Und um "wechselnde Mehrheiten mit der AfD" auszuschließen. Von einer solchen Vereinbarung hatte sie auch ihren Beitrag bei der Ministerpräsidentenwahl abhängig gemacht. Fraktionschef Christian Schaft bewertete das Brombeer-Angebot am Dienstag positiv. "Wir bleiben jetzt im Gespräch. Aber ich würde sagen, es ist möglich, dass eine Lösung gefunden werden kann."
2. So läuft die Wahl am Donnerstag genau ab
Die Wahl wird am Donnerstag im Rahmen eines Sonderplenums stattfinden. Bis Montag hatten die Brombeer-Parteien noch auf die Zustimmung der eigenen Mitglieder zum Koalitionsvertrag gewartet.
Eröffnet wird das Sonderplenum am Donnerstag um 10 Uhr durch den Landtagspräsidenten Thadäus König. Er führt durch die Wahl. "Mein Ziel ist, das Vertrauen in den Thüringer Landtag zurückzugewinnen", sagte er am Dienstag. Die regulär am Mittwoch startende Landtagssitzung verschiebt sich auf den Freitag. Die dafür vorgesehene Tagesordnung ist für diese Sitzung ohnehin nur sehr kurz.
Im Plenum des Thüringer Landtags wird am Donnerstag ein neuer Regierungschef gewählt.
Nur Mario Voigt als Kandidat im ersten Wahlgang
Die Wahl eines Ministerpräsidenten ist per Gesetz festgelegt: durch Artikel 70, Absatz 3 der Verfassung sowie Artikel 47 der Geschäftsordnung des Landtags. Mittels Antrag können Fraktionen pro Wahlgang eigene Kandidaten vorschlagen.
Um im ersten Wahlgang einen Kandidaten aufzustellen, muss der Vorschlag 48 Stunden vorher eingereicht werden. Bis Dienstag um 10 Uhr ging im Landtag lediglich der Vorschlag für Mario Voigt ein - einen Kandidaten von AfD oder Linke wird es im ersten Wahlgang also nicht geben. In den weiteren Wahlgängen können dann aber spontan Kandidaten aufgestellt werden.
So sieht der Wahlzettel aus
Die Namen der Kandidaten stehen auf einem Wahlzettel. Gewählt wird in geheimer Wahl und ohne vorherige Aussprache im Plenum. Steht nur ein Kandidat zur Wahl, können die Abgeordneten auf dem Wahlzettel "Ja", "Nein" oder "Enthalten" ankreuzen.
Gibt es mehrere Kandidaten, kann man nur für den einen oder den anderen Kandidaten stimmen. Ein Ankreuzen für Kandidat A ist quasi ein "Nein" für Kandidat B. Eine "Enthaltung" ist dann nicht vorgesehen, wie die Landtagsverwaltung auf MDR-Nachfrage erklärt.
Wenn sich die Fraktionen intern besprechen wollen, können sie jederzeit eine Unterbrechung beantragen. Diese sogenannte "Überlegungspause" wird vom Landtagspräsidenten nach eigenem Ermessen gewährt und dauert maximal 30 Minuten. Sollten Fraktionen mehr Zeit benötigen, um sich untereinander abzusprechen, kann theoretisch auch das beantragt werden.
Leitet am Donnerstag durch die Wahl: Landtagspräsident Thadäus König von der CDU.
Was, wenn jemand krank ist?
Übrigens: Bei den ohnehin schon kniffligen Mehrheitsverhältnissen wäre es wenig hilfreich, wenn ein Abgeordneter krank oder anderweitig verhindert ist. Sie dürfen nämlich nicht, so die Geschäftsordnung, vertreten werden.
Wenn der Landtagspräsident feststellt, dass alle Abgeordneten ihre Stimmen abgeben konnten, werden die Zettel ausgezählt und das Ergebnis verkündet. Führt der Wahlgang zu keinem eindeutigen Ergebnis, geht es in die nächste Runde.
"Nehmen Sie die Wahl an?"
Erhält ein Kandidat mit mindestens 45 die Mehrheit der Stimmen (1. und 2. Wahlgang) oder "die meisten" Stimmen (3. Wahlgang), ist er gewählt. Der gewählte Kandidat wird dann gefragt, ob er die Wahl annimmt. Der Kandidat muss nicht sofort antworten, sondern kann sich auch - anders als es Thomas Kemmerich beispielsweise 2020 tat - mit seiner Fraktion beraten.
Nimmt der Kandidat an, wird er direkt zu seiner Vereidigung nach vorn gebeten. Alle Abgeordneten werden gebeten, sich zu erheben. Der Ministerpräsident legt den in Artikel 71 definierten Eid ab.
Die Abgeordneten gratulieren danach dem Gewählten. Die Fraktionen überreichen Blumensträuße - oder sie werfen den Strauß, wie in der ikonischen Szene am 5. Februar 2020, dem frisch gewählten Ministerpräsidenten vor die Füße.
Die wohl bekannteste Szene des 5. Februar 2020.
Im Anschluss kann der Ministerpräsident seine Minister ernennen. Er könnte das aber auch erst am darauffolgenden Tag, am Freitag, im Rahmen des ursprünglich geplanten Plenums tun.
3. Diese Szenarien sind bei der Wahl denkbar
Was am Donnerstag wirklich in Erfurt passiert, ist noch offen. Die Linke zeigte sich am Dienstag optimistisch, zu einer "Lösung" zu kommen. Sprich: Es ist wahrscheinlicher geworden, dass sie Mario Voigt direkt im ersten oder auch zweiten Wahlgang als Ministerpräsidenten wählt. Da die Wahl geheim ist, wäre es für die Brombeere hilfreich, die Linke würde sich vor der Wahl zu ihrem Stimmverhalten erklären. Wie gesagt: Eine einzige Stimme der Linke reicht, um Voigt zum Sieg zu verhelfen.
Was wenn AfD Voigt wählt?
Theoretisch denkbar ist aber auch noch, dass die Linke nicht für Voigt stimmt - dafür aber die entscheidenden Stimmen von der AfD kommen. Was dann? Anfragen dazu versucht die Fraktion stets abzuwiegeln, um sich nicht an "Spekulationen bezüglich eines möglichen AfD-Stimmverhaltens" zu beteiligen.
Klarer tritt da BSW-Bundeschefin Wagenknecht auf. Am Wochenende hatte sie erklärt, sollte die AfD Voigt wählen, könne er die Wahl "selbstverständlich“ annehmen. "Was die AfD macht, ist ja nicht unsere Entscheidung", so Wagenknecht.
Die entscheidende dritte Runde
Wenn kein Kandidat in Wahlgang eins und zwei 45 Stimmen bekommt, geht es in die dritte Runde. Hier gibt es Szenarien wie Blumensträuße, die mit dem Brombeer-Angebot an die Linke aber unwahrscheinlich werden. Dennoch: In Erinnerung an die Kemmerich-Wahl 2020 werden sie in den Fraktionen seit Wochen durchgespielt.
Szenario eins: Mario Voigt erhält im dritten Wahlgang 44 Ja-Stimmen (von der Brombeere). AfD und Linke stellen eigene Kandidaten auf. Hat Voigt mehr Ja-Stimmen als die anderen Kandidaten, so ist er verfassungskonform gewählt. So schildern es auch die Juristen des Thüringer Landtags auf MDR-Anfrage.
Szenario zwei: Mario Voigt erhält im dritten Wahlgang 44 Ja- und 44 Nein-Stimmen. Es gibt keinen Gegenkandidaten. Zu dieser Situation gibt es in der Rechtslehre zwei unterschiedliche Auffassungen. Folgt man der einen, sind nur die Ja-Stimmen ausschlaggebend. Bei einem einzigen Kandidaten würde also schon eine Ja-Stimme reichen. Landtagspräsident König erklärte dazu am Dienstag, dass er dieser Auffassung folgen würde. Auch Bodo Ramelow unterstützt diese Auffassung. Die andere Auffassung lautet, ein Kandidat muss mehr Ja- als Nein-Stimmen haben.
Wenn der Landtagspräsident die Wahl Voigts feststellt, könnte eine Fraktion - beispielsweise die AfD - im Nachgang eine Überprüfung vor dem Weimarer Verfassungsgericht anstreben. Ein Sprecher des Gerichts teilte dem MDR mit, für ein solches Hauptsacheverfahren "müsste man schon einen Zeitraum von zwei Monaten veranschlagen". Das Verfahren sowie die Entscheidung würden in Thüringen und ganz Deutschland rechtliches Neuland bedeuten. Der Ministerpräsident bliebe aber im Amt. Sollte die Wahl tatsächlich gekippt werden, müsste die Ministerpräsidentenwahl erneut stattfinden.
Die Vertreter der Fraktionen bereiten sich auf unterschiedliche Szenarien bei der Wahl vor.
Szenario drei: Mario Voigt erhält 44 Ja-Stimmen im dritten Wahlgang. Die Linke (und vielleicht auch die AfD) stellen eigene Kandidaten auf. Die AfD wählt aber - aus reinem Zerstörungswillen heraus - den Linke-Kandidaten. Dann hätten zwei Kandidaten dasselbe Stimmergebnis. "Sowas denken wir mit, auch falls wir auf einmal 45 Stimmen hätten", hatte Christian Schaft dem MDR gesagt. "In dem hypothetischen Fall wären alle unsere Abgeordneten in der Lage - anders als Herr Kemmerich damals - in so einer Situation Nein zu sagen."
Würde ein Gegenkandidat theoretisch genauso viele Ja-Stimmen wie Voigt auf sich vereinen, müsste der Wahlvorgang so lange wiederholt werden, bis ein Kandidat mehr als der andere auf sich vereint.
4. Was passiert nach der Wahl?
Nach der Ministerpräsidentenwahl steht in der Staatskanzlei am Erfurter Hirschgarten der Amtswechsel an. Die dortige Verwaltung steckt momentan in der Planung für die Amtsübergabe. Einen Standardablauf gibt es dafür nicht. "Im Idealfall empfängt der bisherige Ministerpräsident den neuen in der Staatskanzlei zu einer kleinen Übergabe", schreibt die Staatskanzlei.
Zu den ersten Amtsgeschäften gehören neben der Ernennung der Minister auch die Entlassung der alten und Ernennung der neuen Staatssekretäre. Die Staatskanzlei geht davon aus, "dass sich der Kalender des Ministerpräsidenten in den kommenden Wochen schnell füllen wird". Jahresempfänge von Unternehmen oder Vereinen gehören dazu, genauso wie die wöchentlichen Kabinettsitzungen oder die Leitung der Ministerpräsidentenkonferenz-Ost, die Thüringen bis Dezember 2025 innehat.
MPK: Thüringen ohne Chef dabei
Am Donnerstag findet zufälligerweise auch die bundesweite Ministerpräsidentenkonferenz statt. Da Thüringen in diesem Moment im Wahlvorgang steckt, wird daran auch nicht Bodo Ramelow teilnehmen. Ein bislang einzigartiger Moment in der Thüringer Geschichte. Thüringen wird durch die zuständige Abteilungsleitung der Staatskanzlei vertreten sein.
Eine der größten und dringlichsten Aufgaben der neuen Regierung wird der Haushalt für das kommende Jahr sein. Die geschäftsführende Regierung von Bodo Ramelow hatte dafür schon einen Entwurf vorbereitet. Klar ist: Die mögliche Brombeer-Regierung steht vor der Herausforderung, mit weniger Geld klarkommen zu müssen als die beiden vergangenen Regierungen.
MDR (dst)/mit Material von dpa