Thüringen Mindestens 78 Fälle von sexuellem Missbrauch im Bistum Erfurt seit 1945
Seit 1945 hat es im katholischen Bistum Erfurt mindestens 78 Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich deutlich höher. Bislang sind 64 Menschen beschuldigt. Viele Opfer waren in einem Waisenhaus oder einem Altenheim untergebracht.
Im katholischen Bistum Erfurt hat es seit 1945 mindestens 78 Opfer von sexuellem Missbrauch gegeben. Das geht aus dem Zwischenbericht der unabhängigen Aufarbeitungskommission hervor. Zu vermuten ist demnach eine hohe Dunkelziffer. Dabei würde es sich überwiegend um männliche Betroffene handeln, sagte die Vorsitzende der Kommission, Ulrike Brune. Sie vermutet eine deutlich höhere Dunkelziffer.
Bislang sind 64 Menschen bekannt, die des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt werden, 25 davon sind Geistliche, von denen dem Bistum zufolge noch sieben Priester leben. Als Konsequenz daraus sei ein Priester suspendiert worden, ein anderer dürfe nur unter strengen Auflagen arbeiten, sagte Bischof Ulrich Neymeyr.
25 sexuellen Übergriffen und sieben Vergewaltigungen
Bei den Taten, die den Beschuldigten vorgeworfen werden, gehe es um die ganze Palette sexualisierter Gewalt, sagte Brune. Diese reichten von Grenzverletzungen zum Beispiel durch bedrängende Fragen oder Berührungen bis hin zur sexuellen Belästigung und schwersten Sexualstraftaten. Derzeit werde von 25 sexuellen Übergriffen sowie in sieben Fällen von Vergewaltigungen ausgegangen. Staatsanwaltliche Ermittlungen seien meist wegen Verjährung eingestellt worden.
Von den Opfern seien überdurchschnittlich viele in einem Kinderheim, einem Waisenhaus oder einem Altenheim untergebracht gewesen. Nicht selten seien auch die dortigen Ordensschwestern in Missbrauchshandlungen involviert gewesen, so Brune. Ebenso steche die Zahl derjenigen heraus, die als Messdiener sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen seien.
Bistum Erfurt reagierte "nicht adäquat" auf Fehlverhalten
Brune mahnte, im Bistum, in den Kirchgemeinden, in kirchlichen Einrichtungen und insbesondere in Kinderheimen Strukturen an, die es Kindern und Jugendlichen leicht machten, ihre Not zum Ausdruck zu bringen. Auch müssten die kirchlichen Träger ihre Einrichtungen engmaschig durch fachkundiges Personal betreuen. Das Bistum Erfurt habe jedenfalls in der Vergangenheit in aller Regel nicht adäquat auf bekanntgewordenes Fehlverhalten reagiert, so das bisherige Fazit der Kommission.
Bischof Neymeyr verwies darauf, dass der Kommission für ihre Arbeit alle relevanten Akten uneingeschränkt zur Verfügung gestellt wurden. Seit der Einsetzung der Kommission seien weitere Beschuldigungen vorgebracht worden, die bis heute fünf Kleriker als Täter betreffen würden. Zudem seien im Zuge der Aufarbeitung bislang rund 338.500 Euro als Entschädigung an die Betroffenen gezahlt worden seien. Neymeyr rief mögliche weitere Betroffene dazu auf, sich zu melden.
Der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr rief mögliche Betroffene von sexuellem Missbrauch dazu auf, sich zu melden.
Aufarbeitungskommission 2021 gegründet
Die Aufarbeitungskommission hatte sich im Bistum Erfurt im Oktober 2021 konstituiert. Ihr gehören sieben Mitglieder an, zwei davon sind Betroffene. Aufgabe der Kommission ist es, unabhängig zu untersuchen, wie viele Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch kirchliche Mitarbeiter es im Bistum gab, wie die Verantwortlichen mit den Betroffenen und den Beschuldigten umgegangen sind und ob es Strukturen gibt, die sexualisierte Gewalt ermöglichen oder ihre Aufdeckung erschweren. Sie untersucht Fälle im Bistum Erfurt von 1945 bis zum Zeitpunkt ihrer Konstituierung 2021.
Einmal jährlich legt die Kommission dem Erfurter Bischof einen Bericht vor, den auch die Landes- und Bundesbeauftragten für Kinderschutz erhalten. Bis Ende 2026 soll die Kommission einen Abschlussbericht erstellen.
Kritik an Zensur des Jahresberichts
Streit gibt es zwischen der Kommission und dem Bischof über die gekürzte Veröffentlichung ihres Jahresberichts 2023. Neymeyr begründete das damit, dass die ungekürzte Veröffentlichung aus Datenschutzgründen nicht möglich sei. Dem widersprachen die Kommissionsmitglieder, die Persönlichkeitsrechte aufgrund der Anonymisierung gewahrt sehen.
Die Kommission beklagte zudem einen nach wie vor fehlenden unabhängigen Internetauftritt, zudem habe sie bislang noch keine vom Bistum unabhängige Geschäftsstelle.
MDR (jn/dpa/kna)