Experte sieht Reform als ersten Schritt "Pflege ist Megathema der Zukunft"
Die Bundesregierung feiert ihre Pflegereform als großen Erfolg. Heute hat das Kabinett die erste Stufe gebilligt. Doch Pflegeexperte Ralf Suhr betont im Interview mit tagesschau.de: Angesichts von zukünftig vier bis fünf Millionen Pflegebedürftigen wird diese Reform nicht die letzte sein.
tagesschau.de: Das, was die Pflegereform ab Januar an mehr Leistung verspricht - wird das wirklich eine Erleichterung für Gepflegte und Pflegende sein?
Ralf Suhr: Zum einen bringt die Reform echte Leistungsverbesserungen. Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen in einem ersten Schritt um bis zu vier Prozent angehoben werden, um dem fortschreitenden Kaufkraftverlust entgegenzuwirken. Das ist keine Dynamisierung, wie von vielen gefordert, also keine automatische Anpassung. 2017 soll dann geprüft werden, ob eine weitere Erhöhung notwendig ist.
Zum anderen plant der Gesetzgeber auch, Leistungen der Pflegeversicherung zu flexibilisieren. Damit würde den individuellen Bedürfnissen der Menschen besser Rechnung getragen werden. Beispielsweise können zukünftig pflegende Angehörige bei den Entlastungsleistungen - der sogenannten Kurzzeit- und der Verhinderungspflege - viel stärker bestimmen, wie sie diese miteinander kombinieren wollen. Diese Verbesserung ist für pflegende Angehörige ganz zentral und ein richtiger Schritt zur Stärkung der häuslichen Pflege. Denn der Großteil der Pflegebedürftigen wird zu Hause gepflegt, was für die pflegenden Angehörigen mit enormen Belastungen verbunden sein kann.
Als Mediziner und Gesundheitswissenschaftler war Ralf Suhr in Klinik und Forschung tätig. Nach dem Wechsel in die Beratung kümmerte er sich um die Optimierung von Pflege und die Festlegung von Pflegestandards zum Beispiel in Universitätsklinika und Großkrankenhäusern. Seit 2009 ist Suhr Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege in Berlin.
tagesschau.de: Die Pflegereform will in einem zweiten Schritt die Probleme von Demenzkranken stärker in den Fokus nehmen, zum Beispiel durch mehr Pflegestufen. Inwieweit hilft das den Dementen und ihren Angehörigen?
Suhr: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird derzeit in der praktischen Umsetzung erprobt. Es ist angedacht, die bisherigen drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade zu überführen. Dahinter steht die Idee, künftig bei der Begutachtung nicht mehr die Defizite, sondern die erhaltenen Fähigkeiten eines Menschen einzuschätzen. Zudem soll die Pflegebedürftigkeit unabhängig davon bemessen werden, ob ein Mensch Hilfebedarf aufgrund körperlicher oder kognitiver Einschränkungen hat. Somit werden an Demenz Erkrankten und ihren pflegenden Angehörigen künftig mehr Leistungen aus der Pflegeversicherung zukommen.
tagesschau.de: Was ist mit anderen Menschen, die künftig erhöhten Betreuungsbedarf haben werden, beispielsweise Alleinlebende?
Suhr: Diese Gruppe ist bislang nicht genügend beachtet worden. Sie ist aber besonders bedroht von Einsamkeit und Armut - vor allem auch, wenn das Pflegesetting zum Beispiel durch eine zusätzliche Krankheit in Gefahr gerät. Darauf müssen wir uns einstellen, in dem wir beispielsweise das Ehrenamt mit einbeziehen. Pflege kann auch von der erweiterten Familie getragen werden, die Nachbarn und Freunde einschließt. Deshalb muss Politik gerade auf kommunaler Ebene dafür die Möglichkeiten schaffen. Auch das Ehrenamt braucht strukturelle und finanzielle Grundlagen. Hierbei sind demenzfreundliche Kommunen schon heute Vorreiter.
tagesschau.de: Sie sprechen das Ehrenamt an. Andere fordern, Pflegekräfte besser zu bezahlen. Was ist der richtige Weg, um ausreichend Personal zu rekrutieren?
Suhr: Beides ist gleichermaßen wichtig. Aller Voraussicht nach wird die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,5 Millionen auf vier Millionen Menschen bis 2050 steigen. Gleichzeitig werden diejenigen, die pflegen können, immer weniger. Es klafft also eine erheblich Lücke, die sich durch eine Maßnahme allein nicht schließen lässt. Der Pflegeberuf muss wieder für mehr Menschen attraktiv werden. Dazu gehört eine gerechte Bezahlung der Pflegefachkräfte, aber auch das Angebot von beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. Wer nicht mehr schwer heben kann, kann trotzdem zum Beispiel noch gut beraten. Trotzdem wird die Zahl der Fachkräfte allein nicht ausreichen und muss durch Angehörige und Ehrenamtliche ergänzt werden. Die Versorgung der Älteren ist eben auch gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Was aber bislang keine Reform berücksichtigt hat: Die Prävention von Pflegebedürftigkeit muss stärker in den Mittelpunkt rücken. Wir wissen heute, dass Bewegung Pflegebedürftigkeit aufhalten oder deren Fortschreiten zumindest verlangsamen kann. Maßnahmen zur Bewegungsförderung werden aber noch viel zu wenig in der Pflegepraxis angewandt. Daher stellt das ZQP (Zentrum für Qualität in der Pflege) schon seit einiger Zeit eine Übersicht zu wirksamen Bewegungsprogrammen zur Verfügung, die von stationären Einrichtungen einfach in den Pflegealltag integriert werden können.
tagesschau.de: Mit der Reform steigen die Beiträge zur Pflegeversicherung, um Geld für die Versorgung der geburtenstarken Jahrgänge anzusparen. Glauben Sie, dass dieses Geld tatsächlich bei denen ankommt, die heute um die 50 sind?
Suhr: Wenn man nachhaltig finanzieren möchte, muss man Rücklagen bilden. Und diese müssen vor dem Zugriff der Politik sicher sein. Alles, was in Hinblick auf den demografischen Wandel diskutiert wird, muss auch in Hinblick auf Generationengerechtigkeit gedacht werden.
tagesschau.de: Die Pflegereform wird von der Bundesregierung zu einem Zeitpunkt beschlossen, zu dem die Pflegeversicherung über eine Rekordreserve verfügt. Wie erklären Sie diesen auf den ersten Blick absurden Umstand?
Suhr: "Rekordreserve" ist relativ. Es ist richtig, dass es Überschüsse gibt. Aber die decken mal eben die Ausgaben für etwa drei Monate.
tagesschau.de: Wenn diese Reform jetzt beschlossen ist und in Kraft tritt - wird dann alles gut?
Suhr: Eine längere Lebenserwartung ist grundsätzlich etwas Positives. Wer heute 60 Jahre alt ist, kann sich meist bei guter Gesundheit überlegen, wie er die nächsten 30 Jahre gestaltet. Zugleich stehen wir vor der realen Herausforderung, immer mehr Pflegebedürftige gut zu versorgen. Dies ist kein Problem, das die Politik mit dieser Reform als erledigt betrachten kann. Wir werden ständig weitere Schritte unternehmen müssen, Pflege ist das Megathema der Zukunft.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de