Passanten stehen vor zerschlagenen Schaufensterscheiben - aufgenommen am 11. November 1938.
interview

Antisemitismus "Die größte Verschwörungstheorie der Neuzeit"

Stand: 09.11.2023 19:03 Uhr

Antisemitismus habe in unterschiedlichen Gesellschaften immer wieder Konjunktur, sagt der Historiker Ulrich Herbert. Im Interview erklärt er, was vor 85 Jahren zur Pogromnacht führte und was sich für heute ableiten lässt.

tagesschau24: Heute wird wie jedes Jahr an die Pogrome von 1938 gedacht. Was ist in diesem Jahr aus Ihrer Sicht anders?

Ulrich Herbert: Die Ereignisse des 7. Oktober haben das Verständnis von Judentum und Antisemitismus auf eine ganz neue Ebene gestellt. Wir haben ein Massaker erlebt, das so seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Und die Menschen sind umgebracht worden, weil sie Juden sind. Und das erinnert eben doch an die Entwicklung vor 85 Jahren, 1938 in Deutschland.

tagesschau24: Wie hat sich das 1938 angebahnt? Diese Nacht, die kam ja nicht aus dem Nichts.

Herbert: Der Antisemitismus war in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg durchaus verbreitet, allerdings nicht so stark wie in anderen Ländern, etwa wie in Russland oder auch in Frankreich zu dieser Zeit. Die Niederlage des Ersten Weltkriegs hat dem Antisemitismus sehr starken Auftrieb gegeben, weil die Juden dafür verantwortlich gemacht wurden, dass die Deutschen den Krieg verloren haben.

Und auch dass die Hyperinflation entstanden ist, wurde auf die Juden zurückgeführt. Auch die Wirtschaftskrise wurde auf die Juden zurückgeführt. Die Juden waren so eine Art Passepartout für alle Missbilligkeiten und Unerfreulichkeiten und Niederlagen der Deutschen, für die man sich, so hieß es damals, rächen wollte. Und das ist 1938 explodiert und hat die Situation auch in Nazideutschland doch stark verändert.

Ulrich Herbert, Historiker Uni Freiburg, zum Gedenken an Pogromnacht

tagesschau24, 09.11.2023 11:00 Uhr

"Ignoranz gegenüber dem Schicksal der Juden"

tagesschau24: Das heißt, im Vorfeld gab es, ich nenne es mal: Sündenbockdebatten?

Herbert: Sündenbock ist vielleicht etwas zu verniedlichend. Es geht darum, dass in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, die Juden verantwortlich gemacht wurden für die großen Umwälzungen der Moderne, der Kapitalismus ebenso wie der Kommunismus. Also all das, was neu für die Menschen gewesen ist, was über sie herein gestürzt ist, wurde nicht verstanden und auf eine geheime Macht zurückgeführt, die für all das verantwortlich war. Mit der Weltwirtschaftskrise hat sich das dann noch mal zugespitzt.

Wobei ich glaube, dass ein Großteil der Deutschen an der Thematik nicht so interessiert war, sondern es einfach hingenommen hat, weil es eine kleine, auch vielfach verachtete Minderheit war, um die man sich eigentlich nicht sehr gekümmert hat. Das ist in dem heutigen Bild oft etwas anders. Man hat das Gefühl, als hätten sich die Deutschen um nichts anderes gekümmert. Im Gegenteil: Es war eher so, dass die Ignoranz gegenüber dem Schicksal der Juden hier einschlägig war.

Zur Person
Ulrich Herbert ist Leiter der Forschungsgruppe Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwerpunkten gehören die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie die Holocaustforschung.

"Die deutsche Bevölkerung hat sich nicht viel gekümmert"

tagesschau24: Wenn Sie jetzt einen Vergleich zu heute ziehen - wir stehen ja unter einem großen Transformationsdruck. Sehen Sie Parallelen?

Herbert: Ich glaube, das gilt immer. Der Antisemitismus ist die größte Verschwörungstheorie der Neuzeit, auf die immer wieder zurückgegriffen wird, wenn die Dinge nicht so laufen, wie die Menschen es erwarten oder wie sie es erhoffen. Die gegenwärtige Situation ist natürlich gekennzeichnet durch den Nahostkonflikt, der im Grunde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs manchmal ein heißer, manchmal ein kalter Krieg ist und die Situation stark prägt. Die Transformationen sind nicht einfach. 1938 wie auch heute ging es aber natürlich um den Umgang mit Juden als solche. Sie werden angegriffen, weil sie Juden sind.

Aber die Rolle des Staates Israel hat eine andere Bedeutung - auch für die Juden selbst. Denn 1938 waren die Juden allein gegen die Nazis. Die deutsche Bevölkerung hat sich nicht viel gekümmert. Der Pogrom wurde ausgeführt von der SA, sehr stark von der HJ, also der Hitlerjugend, eher von Parteileuten. In der Bevölkerung gab es wenig positive Reaktionen darauf. Das ist doch relativ bemerkenswert, dass das so einschlägig, sagen wir mal radikal, von Seiten der Bevölkerung gar nicht war.

Solidarität im Alltag nötig

tagesschau24: Die Zeitzeugen sterben. Was können wir als Gesellschaft, aber auch als Medien aus ihrer Sicht tun oder lassen, um ein Nie-Wieder möglich zu machen?

Herbert: Das Erste ist sicherlich nicht das Einfachste, zu verhindern, dass es rechtsradikale und faschistische Regime gibt. Das ist die Grundkonsequenz aus dem Nationalsozialismus insgesamt und aus der Judenverfolgung im ganz Besonderen. Das Zweite ist, dass man gut beraten ist, sich ganz besonders aufmerksam und genau mit den Minderheiten im eigenen Land zu befassen. Vor allen Dingen mit denjenigen, die ausgegrenzt sind und als minderwertig gelten oder als auch als Feinde. Dort setzen gewissermaßen die radikalisierenden Tendenzen an. Und hier muss man aufpassen, dass die Gesellschaft gerade auf diejenigen, die im Schatten stehen, ganz besonders sorgfältig schaut und hier auch auf Solidarität übt.

Es ist einfach, Solidarität zu üben, wenn sich der ganze Staat sozusagen von oben bis unten dafür einsetzt. Viel schwieriger ist das in Situationen, in denen sich die Öffentlichkeit nicht so eindeutig verhält. Das ist eine weitere Konsequenz aus diesem Vorgehen.

Das Gespräch führte Michail Paweletz für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 09. November 2023 um 11:00 Uhr.