Ein Jugendlicher hält ein Smartphone in den Händen. (Archivbild vom 16.08.2022)

Forschung zu Radikalisierung Warum Islamismus auch in Deutschland verfängt

Stand: 08.04.2025 13:05 Uhr

Mehrere Anschläge in Deutschland hatten zuletzt einen islamistischen Hintergrund. Ein Forschungsnetzwerk hat Radikalisierung untersucht. Wer ist besonders anfällig? Und welche Rolle spielen soziale Netzwerke?

Wenn Julian Junk vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung beschreiben soll, was das Forschungsnetzwerk RADIS alles untersucht hat, müsste er eigentlich eine längere Rede halten. Denn die zwölf Projekte, die in verschiedenen Institutionen aus Wissenschaft und Praxis gearbeitet haben, waren sehr vielfältig und haben das Phänomen des radikalen Islamismus in Deutschland möglichst umfassend betrachtet.

100 Forschende und Praktiker waren beteiligt, Junk hat die Arbeit koordiniert. Er ist zufrieden mit den Ergebnissen.

Deutschland als Vorbild

Eine seiner Erkenntnisse überrascht vielleicht: "Deutschland ist international betrachtet vergleichsweise gut aufgestellt im Bereich Prävention und Umgang mit dem radikalen Islamismus", sagt er. In den vergangenen zehn Jahren sei gut gearbeitet worden, es wurden Strukturen geschaffen und Prozesse professionalisiert, Akteure hätten sich immer besser vernetzt. Das bestätigen viele, die sich in der Szene auskennen. Aber alle betonen auch, dass es immer noch viel Unbekanntes gebe. Und natürlich herrscht die Sorge, dass angesichts leerer öffentlicher Kassen an Forschung, Prävention und Aussteigerprogrammen gespart werden könnte.

Es ist inzwischen unstrittig, wer anfällig ist für diese extreme Ideologie, vielleicht sogar für Gewalt. Betroffen sind fast immer junge Menschen, meist aus Zuwandererfamilien mit oft islamischem Hintergrund. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Von den 5,5 Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland sind allerdings nur ganz wenige radikal, extremistisch oder gewaltbereit. Islamistische Ideologien verfangen bei denen, die Probleme haben.

Gesellschaftliche und individuelle Ursachen

Zum einen sind das gesellschaftliche Ursachen. Wer sich aufgrund seiner Herkunft diskriminiert, ausgegrenzt und als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlt oder gar Opfer ausländerfeindlicher Gewalt wurde, sucht nach Anerkennung und Gemeinschaft bei denen, die ihn - oder seltener sie - vermeintlich respektieren und wertschätzen.

Die Betroffenen erleben bei Salafisten, Dschihadisten, dem IS oder anderen radikal-islamistischen Gruppierungen eine Gemeinschaft, die sie nicht nur annimmt, sondern auch sagt: "Ihr seid bessere Menschen als die Ungläubigen."

Dazu kommen oft individuelle Voraussetzungen, die junge Menschen in die Arme der religiösen Fanatiker treiben. Viele haben ernste psychische Probleme, andere sind labil, einsam und frustriert. Sie glauben gern, was ihnen die Propaganda radikal-islamistischer Gruppierungen verspricht. Sie hoffen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Extremismusforscher Junk fasst das in einem Satz zusammen: "Islamismus gibt gebrochenen Seelen Halt."

Die Seelenfänger haben es heutzutage leicht, ihre Opfer zu finden. Vorbei sind die Zeiten, da bärtige Salafisten in deutschen Fußgängerzonen den Koran verteilen mussten. Heute läuft der allergrößte Teil des Kontakts über das Internet. Das ist kostengünstig und effektiv, weil die meisten Jugendlichen ohnehin im digitalen Raum unterwegs sind.

Auf Social-Media-Plattformen gibt es unzählige Anwerbe- und Informationsvideos. Konkret abgestimmt auf die Zielgruppe treten islamistische Influencer auf, die religiös oder gesellschaftlich argumentieren.

Kurze Videos, keine Zwischentöne

Nader Hotait und seinen Kolleginnen und Kollegen vom Sozialwissenschaftlichen Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität Berlin haben einige Tausend dieser Videos gesichtet, ausgewertet und auf ihre Wirkung hin untersucht. Er sagt, besonders erfolgreich seien kurze Videos.

Möglichst klare Aussagen seien gefragt, einfache Antworten auf alle Probleme. Sie verfangen am besten bei jungen Menschen, deren religiöse Vorbildung gering ist, die sich in einer Orientierungsphase befinden, nach einem Weg im Leben suchen. Und die wenig Vertrauen in Politik und Zivilgesellschaft hierzulande haben. Bei den Muslimen, die einen gefestigten Glauben haben und mit sich im Reinen sind, wirken solche Videos kaum. 

Was aber tun, wenn junge Menschen sich radikalisiert haben? Die Organisation Violence Prevention Network kümmert sich seit vielen Jahren deutschlandweit präventiv und begleitend um diejenigen, die Hilfe brauchen. Wenige kommen von selbst. Die Beraterinnen und Berater sind auf Hinweise angewiesen.

Das Umfeld sei entscheidend, sagt Thomas Mücke, der lange Erfahrung im Bereich von Islamismus, aber auch Rechtsradikalismus hat. Oft vollziehe sich Radikalisierung über einen gewissen Zeitraum hin, es gebe Signale. "Der einsame Wolf, der sich radikalisiert, ohne dass jemand etwas mitbekommt, ist sehr selten."

Hinweise sind wichtig

Eltern können sich beim violence prevention network melden, Lehrkräfte, Freunde, Nachbarn - alle, die den Eindruck haben, ein junger Mensch verändert sich in eine radikale Richtung. Die Fachleute gehen dann auf die betroffenen jungen Leute zu.

Man mache da gute Erfahrungen, betont Thomas Mücke. Inzwischen gebe es lange erprobte Strategien, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Die Vereine des Netzwerks betreuen auch Menschen, die aus islamistischen Gruppierungen aussteigen wollen, und IS-Rückkehrer, die in Syrien und andernorts unterwegs waren. Selbst hier sei die Rückfallquote verschwindend gering.

Es gebe natürlich keine hundertprozentige Sicherheit, dass etwa Terroranschläge verhindert werden könnten, aber die Zusammenarbeit auch mit den Sicherheitsbehörden sei gut. Das bestätigen die meisten Forschenden von RADIS.

Der Erfolg von Prävention könne noch besser werden, wenn der Austausch zwischen Forschung und Praxis weiter intensiviert werde. Beide Seiten profitierten davon: Die Praktiker in Beratung und Sozialarbeit haben Zugang zu gefährdeten jungen Menschen, kennen deren Situation und ihre Beweggründe. Die Forschenden können von Einzelfällen ausgehend Muster entdecken, internationale Trends beobachten und Handlungsempfehlungen anbieten.

Keine einfachen Lösungen

Solche Handlungsempfehlungen will das Forschungsnetzwerk RADIS auch an die Politik weiterleiten. Denn Islamismus könne nicht nur durch Terroranschläge eine unmittelbare Bedrohung darstellen, sondern auch die gesellschaftliche Stabilität gefährden. Wenn durch die Taten einiger Weniger ein Generalverdacht gegenüber muslimischen Zuwanderern zur Grundstimmung im Land werde, wie rechte populistische Kreise sie befeuern, werde es auch mehr Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit geben. Und damit werde dann wiederum der Nährboden für noch mehr Radikalisierung geschaffen. Auf beiden Seiten: Islamismus und Rechtsradikalismus.

Besser sei Prävention durch Integration und durch mehr Demokratiebildung. Erforderlich seien Bildungsmaßnahmen, politische und öffentliche Sensibilisierung, stärkere Zusammenarbeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure sowie die aktive Einbindung muslimischer Communities. Eine konsequente finanzielle Unterstützung von Sozialarbeit würde funktionierende Strukturen absichern und die Möglichkeit zu ihrem Ausbau schaffen, wo es notwendig sei. Eine erfolgreiche Politik gegen radikalen Islamismus sei vielschichtig, sagen die Forschenden von RADIS. Einfache Lösungen wie "Alle abschieben" würden nichts nützen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 08. April 2025 um 14:00 Uhr.