Polizisten stehen im Rahmen einer Razzia an einem Polizeiwagen.

Kampf gegen Clankriminalität Nadelstiche, aber kein schneller Erfolg

Stand: 10.04.2025 13:47 Uhr

Die Straftaten krimineller Familienclans setzen Behörden unter Druck. Doch wie effektiv ist das aktuelle Vorgehen? Die Beamtenseite klagt über fehlendes Personal und oberflächliche Ermittlungen.

Von Fritz Sprengart, WDR

Hidir Araz schaut nachdenklich über den Fußballplatz der Bezirkssportanlage in Altenessen. "1989 bin ich mit meiner Familie aus dem Libanon nach Deutschland gekommen", erzählt Araz. Im vergangenen Jahr hätte es ihn hier bei einem Kreisligaspiel beinahe erwischt, er wäre fast von einer Kugel getroffen worden. Die Polizei stuft ihn als eine Person "mit Clanbezug" ein. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die dem WDR vorliegen.

Auf diesem Fußballfeld im Essener Norden ist er von Mitgliedern einer verfeindeten Clan-Familie angegriffen worden. Ein Video des Vorfalls im Mai 2024 ist im Internet zu finden. Zu sehen sind etwa 60 Personen, wie sie den Fußballplatz stürmen. Einige von ihnen tragen Macheten. Ein Schuss fällt, aus einer scharfen Waffe, wie sich später herausstellt.

Hidir Araz

Hidir Araz flüchtete vor dem Angriff einer verfeindeten Clan-Familie.

Hidir Araz gehört zu denen, die man im Video vor den Bewaffneten weglaufen sieht. "Ich bin gerannt, da habe ich Schüsse von hinten gehört", erzählt Araz mit weit aufgerissenen Augen. "Da war auch eine Frau dabei, die hat auf Arabisch geschrien: Bringt die um, bringt die um". Die Polizei nennt solche Vorfälle "Tumultlagen".

Dass Mitglieder aus dem Clanmilieu über Gewaltausbrüche wie diesen so offen reden, kommt so gut wie nie vor. Denn die Familien regeln solche Dinge am liebsten unter sich, manchmal holen sie dafür auch einen sogenannten Friedensrichter aus den eigenen Reihen dazu. Hidir Araz erzählt exklusiv, was der Auslöser des Streits gewesen sei: Der Haupttäter habe Geld von ihm gefordert. Der Angriff sei eine Vergeltungstat, weil er nicht gezahlt habe, so sagt er.

Araz ist in Essen-Altendorf zu Hause. Der Stadtteil gilt als Hochburg krimineller Clangeschäfte. Doch Einzelheiten zu diesen "Geschäften" erfährt man kaum von ihm. Nur so viel: In den vielen arabischen Lokalen bezahlt offenbar nicht jeder, der hier isst. Das beobachtet Araz immer wieder. "Die denken, der Wirt hat Angst vor mir, ich bezahl das nicht", erzählt der 40-Jährige. "Ich würde so was nie machen."

Clans sind nicht die Mafia - noch nicht

"So fängt das oft an", sagt Oliver Huth. Er ist NRW-Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. "Wenn der Wirt akzeptiert, dass Leute nicht zahlen, dann haben die den Fuß in der Tür. Das kann der Anfang von Schutzgelderpressung sein."

Huth hat jahrzehntelange Erfahrung als Ermittler im Bereich Organisierte Kriminalität. "Clankriminalität ist aber nicht nur Organisierte Kriminalität", erklärt Huth. "Es gibt auch Delikte wie Schwarzfahren oder Sozialbetrug." So etwas würden kriminelle Banden aus der Organisierten Kriminalität, wie etwa die italienische Mafia, eher nicht tun. Clans basieren auf Blutsverwandtschaften. Es geht häufig um Straßenkriminalität, auch Raub und illegales Glücksspiel.

Die Familien - in der Regel haben sie türkische, libanesische oder arabische Wurzeln - agieren meist regional begrenzt. Mafia-Organisationen dagegen handeln, fast wie internationale Konzerne, rund um den Globus im großen Maßstab mit Drogen, Waffen und Menschen.

Aber es gibt Gemeinsamkeiten, erklärt Huth: "Familienbasierte Kriminalität basiert auf einem Oberhaupt, einem Patriarchen, der Straftaten in Auftrag gibt", so der Ermittler. Das sei bei den Clans nicht anders als bei der Mafia. Wenn es um Schutzgelderpressung geht, um internationalen Drogenhandel oder um Geldwäsche, sei das kriminelle Geschäftsgebaren der Clans allerdings sehr mafiaähnlich.

Bremen, Berlin, Ruhrgebiet

Als Hochburg krimineller Familienclans gilt vor allem Berlin. Aber auch Großstädte wie Hamburg oder Bremen sind Brennpunkte - und eben das Ruhrgebiet. Städte wie Essen und Duisburg sind immer wieder durch sogenannte Tumultlagen in die Schlagzeilen geraten - wie die auf dem Fußballplatz in Essen.

Zuletzt wurden in Nordrhein-Westfalen 7.000 Straftaten innerhalb eines Jahres dem Clanmilieu zugerechnet. Das geht aus dem aktuellen Lagebild der Landesregierung hervor. Sieben Jahre, nachdem NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kriminellen Clans den Kampf angesagt hat, ist das ziemlich ernüchternde Fazit.

Über 400 Razzien pro Jahr in NRW

Reul nennt sein Vorgehen eine "Politik der 1.000 Nadelstiche". Über 400 Razzien gibt es pro Jahr in NRW. Dabei durchsuchen Beamte regelmäßig Shisha-Bars und Wettbüros. Die Clans sollen keine ruhige Minute haben, so die Strategie. Häufig werden aber nur kleinere Delikte aufgedeckt. Die kriminellen Großfamilien schrecken Reuls Nadelstiche offenbar nicht ab.

Innerhalb von drei Jahren stieg die Zahl der Straftaten von 5.500 auf 7.000 - und das, obwohl der NRW-Innenminister den Kampf gegen die kriminellen Großfamilien zur Chefsache erklärt hat.

"Es braucht auch Strukturermittlungen in die Clans hinein", kritisiert Christina Kampmann, Landtagsabgeordnete der SPD. Gemeint sind verdeckte Ermittlungen, die Geldwäsche, Drogengeschäfte und anderes illegales Treiben offenlegen. Das, so glauben Experten, wäre effektiver als Woche für Woche Barber-Shops und Shisha-Bars zu kontrollieren.

"Früher gab es in Essen jede Woche 'Tumultlagen', jetzt nur noch zwei, drei im Jahr", kontert Innenminister Reul. "Aber kein Mensch hat versprochen, dass es nie wieder Clankriminalität auf der weiten Welt gibt. Das ist irre und Quatsch und Unsinn."

Auf Initiative von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wurde 2023 die "Allianz gegen Clankriminalität" ins Leben gerufen. Eine Maßnahme, um die Kräfte von Bund und Ländern stärker zu bündeln. Eines der Hauptziele: gemeinsame Ermittlungsverfahren. Die Initiative ist eine Reaktion darauf, dass auch die Clans zunehmend bundesweit agieren. Einige Familien sind riesig und leben in praktisch allen Bundesländern in Deutschland.

Mehr Ermittler - neue Schwerpunkte

Mehr Tiefenermittlung wünscht sich auch Oliver Huth. Der Bund der Kriminalbeamten fordert eine neue Schwerpunktsetzung. Doch dafür reicht das Personal offenbar nicht aus. "Die Anzahl der Ermittler bei der Kriminalpolizei ist in den vergangenen zehn Jahren nicht nennenswert erhöht worden", so Huth. "Da müssen Ermittlungen an der Oberfläche bleiben."

Huth fordert deshalb, die Bewachung von Regierungsgebäuden an private Dienstleister zu vergeben. Dadurch würden in NRW 400 Polizisten frei für "wichtigere Aufgaben", so Huth. Die Antwort der Politik auf diesen Vorschlag steht noch aus.

Mehr dazu sehen Sie in der Doku Drogen, Gewalt und Waffen: NRW im Griff der Clans?