Europawahl 2024
Wahlkampf in Frankreich Macrons Partei im Zangengriff
Ausgerechnet die Europawahlen scheinen zu einer Abrechnung mit dem überzeugten Europäer Macron zu werden: Die extreme Rechte liegt in Frankreich weit vorne - und selbst die Sozialisten könnten seine Partei überholen.
Die Partei des Europäers par excellence, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, droht bei den Europawahlen ein Desaster zu erleben.
Schon seit Monaten baut der Spitzenkandidat der extrem rechten Partei Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, seinen Vorsprung aus. In Wahlumfragen liegt er bei rund 32 Prozent, während die Spitzenkandidatin der Macron-Partei Renaissance, Valerie Hayer, mit rund 16 Prozent auf nur halb so viele Stimmen kommt. Der Rechtsruck Frankreichs ist kein fernes Szenario mehr, sondern Realität.
Von links wiederum macht sich der sozialistische Kandidat Raphaël Glucksmann daran, Macrons-Partei zu überrunden. Lange haben ihn die Wahlkampf-Strategen unterschätzt, nun scheint er für viele linksorientierte, enttäuschte Macron-Wähler zur Hoffnungsfigur geworden zu sein.
Macron - Visionär ohne starke Kandidatin
Dass Macrons Partei in diese Lage geraten ist, hat auch und vor allem mit dem Präsidenten selbst zu tun. Er hatte als Europa-Visionär nicht die Weitsicht zu erkennen, dass er frühzeitig einen starken Spitzenkandidaten benennen muss, der sich mit voller Kraft dem jungen, smarten Bardella entgegenstellen kann.
Stattdessen nominierte Macron nach langem Zögern und viel zu spät die im Land völlig unbekannte, unsicher wirkende Valerie Hayer. Als die Bauerntochter und Fraktionsvorsitzende der liberalen Renew-Europe-Gruppe im EU-Parlament endlich in den Wahlkampf startete, war Bardella bereits mehrere Monate durchs Land gereist.
Geschickt nutzte er währenddessen alle Krisen, die die Regierung zu managen hatte, um seinen Vorsprung auszubauen: Energiepreise, Jugendgewalt, Bauernproteste. Bardella schafft es, bei all diesen Themen die Regierung vor sich her zu treiben.
Stilisierung als Retter der "Seele Frankreichs"
Der RN-Spitzenkandidat bezeichnet die Beschlüsse zur gemeinsamen europäischen Agrarpolitik als "strafende Ökologie". Mit überzogenen Auflagen für die Landwirte sorge die EU-Agrarpolitik dafür, dass die Bauernhöfe in Frankreich eingingen; ausgerechnet in dem Land, wo Essen Kulturgut sei. So sei "die Schlacht, die wir am 9. Juni schlagen, eine Schlacht für die Seele Frankreichs" - Bardella verknüpft Europapolitik mit Identitätspolitik.
Auch der europäische Migrationspakt sei ein Angriff auf die französische Seele. Für die Architekten dieses Paktes, den Macrons Partei maßgeblich mitgestaltet hat, sei die Massenimmigration "ein Projekt", behauptet Bardella. Der Pakt sei "immigrationistisch", wortschöpft der gutaussehende, kraftstrotzende Kandidat, dem Junge wie Alte, Männer wie Frauen wie einen Popstar feiern.
Er hat Erfolg bei Wählerschichten, in denen sich der RN bisher eher schwer tat: Frauen, Bessergebildete und Rentner. Wo Bardella auftaucht, gibt er sich strahlend dem frenetischen Selfie-Rausch seiner Anhänger hin. Seinem Instagram-Account folgen mehr als 500.000 Menschen.
Die Europawahlen hat Bardella zu einem Anti-Macron-Referendum ausgerufen, zu einem Test für die Präsidentschaftswahlen 2027. Sie sollen das Sprungbrett des Rassemblement National in den Elysée werden. Marine Le Pen würde dann Präsidentin, Bardella bekäme den Posten des Premierministers.
Falsche Strategie
Auf den Erfolg Bardellas reagiert die Präsidentenpartei Renaissance mit derselben Strategie wie in den letzten Wahlkämpfen. Sie macht den RN zum Hauptfeind und adelt ihn dadurch unfreiwillig. Die Medien - auch die öffentlich-rechtlichen - spielen mit.
Macron hat sogar seinen Premierminister Gabriel Attal in ein TV-Duell mit Bardella geschickt, obwohl er gar nicht kandidiert. Zwar konnte der 35-jährige Premier gegen den 28-jährigen Bardella punkten und ihn mit Sachwissen stellen. Aber letztlich hat dieses Duell Bardella nur eine noch größere Bühne beschert.
Macron setzt noch einen drauf: Jüngst erklärte er sich dazu bereit, selbst gegen die Grande Dame des RN und dreimalige Präsidentschaftskandidatin Le Pen im TV-Duell anzutreten - ganz so, als handele es sich tatsächlich bereits um vorgezogene Präsidentschaftswahlen.
Wird Glucksmann sogar Zweiter?
Der Demokratie im Land tut das nicht gut - und die übrigen Konkurrenten beschweren sich bitter über diesen Zweikampf, der zutiefst antipluralistisch sei. Vor allem Raphael Glucksmann prangert diese Reduzierung auf zwei Antipoden an.
Der Kandidat der Sozialisten könnte auf den letzten Metern noch an Hayer vorbeiziehen und den zweiten Platz belegen. Im Windschatten des Zweikampfes zwischen RN und Renaissance hat er mit seiner Liste immer weiter dazugewonnen. Er kämpft für mehr Solidarität und mehr Umweltschutz und hat den Migrationspakt als zu scharf abgelehnt.
In anderen Punkten ist er aber nicht weit von Renaissance entfernt. Auch er will Europa wehrhafter machen und plädiert für eine europäische Präferenz bei Auftragsvergaben. Auch er will innerhalb der EU das Vetorecht abschaffen. Fragt man Wähler, warum sie sich eher für Glucksmann entscheiden als für die Liste Hayers, wird deutlich: Es gibt einen Macron-Malus.
Der Macron-Malus
Viele ehemalige Macron-Wähler wenden sich ab. Zum Beispiel Stéphane Moussin, Mitte 30, der am Rande einer Wahlveranstaltung von Glucksmann im Norden von Paris seiner Enttäuschung Luft macht. Mittlerweile habe er eine regelrechte Aversion gegen Macron entwickelt. Jetzt will er für Glucksmann stimmen.
Der Präsident habe auf nationaler Ebene gerade in sozialen Belangen zynisch agiert, zum Beispiel mit der Rentenreform. "Auf europäischer Ebene hat er getan, was er konnte, gerade im Ringen mit Deutschland. Aber was er in Frankreich gemacht hat, geht gar nicht."
Ausgerechnet die Europawahlen scheinen zu einer Abrechnung mit Macron zu werden; demjenigen, der die Stärkung der Europäischen Union schon immer zum Markenkern seiner Politik gemacht hat.