Völkerrechtler zu Drohnenangriffen auf Moskau "Selbstverteidigungsrecht endet nicht an der Grenze"
Nach Drohnenangriffen auf Moskau gefragt, antwortet Außenministerin Baerbock, die Ukraine handle im Rahmen internationalen Rechts. Ein Völkerrechtsexperte der Universität Köln erklärt die Grundlagen für das Recht auf Selbstverteidigung.
tagesschau.de: Befragt nach der zunehmenden Präsenz von Drohnen über Moskau hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock auf einer Pressekonferenz geantwortet: "Russland hat die Ukraine angegriffen. Deshalb hat die Ukraine ein verbrieftes Recht in der UN-Charta, ihr Land, seine Menschen selbst zu verteidigen." Das lässt sich so verstehen, als habe sie auch die Drohnenangriffe auf Russland als zulässig bewertet. Gibt es eine entsprechende Regelung im Völkerrecht?
Claus Kreß: Die Außenministerin hat die maßgebliche Rechtsgrundlage tatsächlich nicht ausdrücklich genannt. Sie findet sich in Art. 51 der UN-Charta. Hier wird das Selbstverteidigungsrecht verbrieft. Dieses Recht setzt einen bewaffneten Angriff voraus.
Die Ukraine ist seit geraumer Zeit Opfer eines bewaffneten Angriffs Russlands. Dieser dauert fort, und gegen diesen setzt die Ukraine sich im Rahmen des Völkerrechts zur Wehr.
Die Befugnis zur Selbstverteidigung endet nicht räumlich an der Grenze des angegriffenen Staates, sondern sie erstreckt sich grundsätzlich auf das Territorium des Angreifers. Dabei gibt es zwei weitere, ungeschriebene Voraussetzungen: Selbstverteidigungsmaßnahmen müssen erforderlich und verhältnismäßig sein.
"Völkerrecht muss beachtet werden - auch bei der Selbstverteidigung"
tagesschau.de: Russland wirft der Ukraine Angriffe auf Hochhäuser eines Geschäftsviertels in Moskau vor - von ukrainischer Seite gibt es dazu bislang keine Angaben. Würde aber die Befugnis zur Selbstverteidigung solche Angriffe mit einschließen?
Kreß: Auch ein Staat, der sein Recht zur Selbstverteidigung ausübt, muss das humanitäre Völkerrecht beachten. Hiernach gilt, dass gezielte militärische Angriffe auf zivile Ziele verboten sind. Ob ein Ziel ziviler oder militärischer Natur ist, muss im Einzelfall untersucht und bewertet werden.
Militärisch ist ein Ziel dann, wenn es aufgrund seiner Beschaffenheit, seines Standorts, seiner Zweckbestimmung oder seiner Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beiträgt und wenn seine gänzliche oder teilweise Zerstörung, Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.
Die Ukraine dürfte gezielte militärische Angriffe auf zivile Ziele nach dem für sie geltenden Völkervertragsrecht übrigens auch nicht in der Form von Repressalien durchführen. Die Ukraine dürfte also zivile Ziele auch nicht deshalb angreifen, um so Druck auf Russland auszuüben, damit dieser Staat für die Zukunft Angriffe auf zivile ukrainische Ziele sowie sie für den bisherigen Verlauf des Kriegs vielfach dokumentiert worden sind, unterlässt.
Im klassischen Völkerrecht galt das Recht zur kriegerischen Repressalie in vergleichsweise weiterem Umfang. Grund für die heutigen Repressalienverbote ist im Kern das humanitäre Anliegen, Zivilisten auch im Zuge der Kampfführung weitergehend als in der Vergangenheit zu schützen.
"Kein Verbot für Einsatz von Drohnen"
tagesschau.de: Ist der Einsatz von Drohnen als Kampfmittel völkerrechtlich geregelt?
Kreß: Der Einsatz von Drohnen im internationalen bewaffneten Konflikt ist nach dem geltenden humanitären Völkerrecht als solcher nicht verboten, es besteht kein entsprechendes Kampfmittelverbot.
Das bedeutet aber nicht, dass Drohnen bei der Kampfführung nach Belieben zum Einsatz gebracht werden können. Vielmehr darf auch ein Verteidiger Drohnen nur im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht zum Einsatz bringen
"Entscheidend ist das Ausmaß von Gefahr"
tagesschau.de: Baerbocks estnischer Amtskollege Margus Tsahkna ging in seiner Antwort auf die Frage nach Drohnen über Moskau noch weiter, betonte unter anderem "Russland ist für das Anzetteln eines Genozids verantwortlich". Spielt das bei der Bewertung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Verteidigung eine Rolle?
Kreß: Der völkerrechtliche Begriff des Völkermords ist in der Völkermordkonvention definiert, und seine Voraussetzungen sind streng. Die Frage, ob Russlands Vorgehen in der Ukraine diese Voraussetzungen erfüllt beziehungsweise in der Zukunft erfüllen könnte, liegt auf einer anderen rechtlichen Ebene als diejenige nach den Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts.
Der entscheidende Bezugspunkt für Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung ist das Ausmaß des bewaffneten Angriffs, dessen sich der Verteidiger ausgesetzt sieht. Das Ausmaß des russischen Angriffs ist offenkundig enorm.
tagesschau.de: Tsahkna erklärte auch: "Wir unterstützen die Ukraine vollumfänglich bei dem, was sie tut." Kann es also für das von Tsahkna gemeinte "Wir" Auswirkungen haben, wenn die Ukraine ihrerseits das Völkerrecht verletzt?
Kreß: Ich habe den Außenminister Estlands so verstanden, dass er seine Aussage auf der Grundlage der von der deutschen Außenministerin und ihm selbst bekräftigten Voraussetzung getroffen hat, dass die Ukraine das Völkerrecht einhält. Wissentliche Beihilfe eines Staates zur Verletzung des Völkerrechts durch einen anderen Staat ist völkerrechtlich verboten.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de