Auf diesem von der ukrainischen 10. Gebirgsjägerbrigade «Edelweiß» zur Verfügung gestellten Foto gehen ukrainische Soldaten an einem Bus vorbei, der nach Drohnenangriff in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk brennt.
interview

Gescheiterte Gegenoffensive "Eine Folge strategischer Fehlkalkulationen"

Stand: 12.02.2024 20:34 Uhr

Der ehemalige ukrainische Armeechef Saluschnyj fand nach Einschätzung von Generalleutnant a. D. Romanenko zu wenig Gehör bei Präsident Selenskyj. Auch deshalb sei die Gegenoffensive ins Stocken geraten.

tagesschau.de: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat betont, dass sich der Krieg verändert habe, es deshalb einen neuen Oberkommandierenden brauche. Was hat sich so deutlich verändert?

Ihor Romanenko: Der Krieg ist zu einem Stellungskrieg geworden. Das ist vor allem deshalb so, weil sich für die Ukraine die Situation bezüglich der Ressourcen verschlechtert hat. Wir waren gezwungen, zu einer strategischen Verteidigung überzugehen.

Ich denke, dass der neue Oberkommandierende, General Oleksandr Syrsky, jetzt zu einer aktiven Verteidigung zurückkehren wird. Das heißt, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, wird es aktive Aktionen geben, also Gegenoffensiven und Offensiven - je nach den Ressourcen, die vorhanden sind.

Ihor Romanenko
Zur Person
Ihor Romanenko ist Generalleutnant im Ruhestand, sowie ehemaliger stellvertretender Chef des ukrainischen Generalstabs der Streitkräfte der Ukraine.

"Lage an der Front ist aktuell schwierig"

tagesschau.de: Kommt die Entscheidung Selenskyjs, den Oberkommandierenden auszutauschen, zur richtigen Zeit? Birgt das Timing nicht ein hohes Risiko? Es geht ja um ein ganzes Team. Beispielsweise muss ja auch Syrskyj ersetzt werden.

Romanenko: Auf jeden Fall war das eine riskante Entscheidung. Deshalb waren Experten und die Bevölkerung besorgt über diese Veränderung. Die Sorge ist berechtigt. Die Lage an der Front ist aktuell ziemlich schwierig.

Denn die Russen sind auf dem Vormarsch und das neue Team braucht Zeit, um die Lage zu verstehen. Selbst wenn man bedenkt, dass Syrskyj Erfahrung hat. Aber es wird ja eben nicht nur Syrskyj neu eingesetzt, das ganze Team wird sich mit verändern.

Es wird einige Zeit dauern, bis es seine neuen Aufgaben bewältigen kann. Das ist ein Risiko, denn Zeit ist bei der Kriegsführung, insbesondere in einem groß angelegten Krieg, ein strategischer Faktor. Es ist ein Risiko.

tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Wirkung auf die Soldaten ein? Auch, weil der bisherige Oberkommandierende Walerij Saluschnyj sehr beliebt war?

Romanenko: Bislang sind die Soldaten ja noch von keinen Veränderungen betroffen. Weil das Zeit braucht. Und die Zeit wird alles richten. Wir werden sehen, was sich verändert und wie es sich verändert.

"Regierung hörte Saluschnyj nicht zu"

tagesschau.de: Für welche Taktik stand Saluschnyj? Was waren seine Stärken?

Romanenko: Eine seiner Stärken war, seinem eigenen Chef, also dem Oberbefehlshaber Selenskyj, ziemlich schwierige Fragen zu stellen. Er hat benannt, was der Staat seinen Streitkräften zur Verfügung stellen sollte, hinsichtlich Waffen, Ausrüstung und Personal.

In Bezug auf das Personal hat er zum Beispiel schon Anfang letzten Jahres gemeint, dass es notwendig sei, die Reihen unserer Brigaden aufzufüllen, die Kampfeinsätze durchführen.

Aber man hörte nicht auf ihn, als er die Fragen stellte. Weil die Regierung ihm nicht zuhörte, war er gezwungen, sich in ausländischen Medien zu den ungelösten Problemen zu äußern.

"Wir hätten die Aktion abbrechen müssen"

tagesschau.de: Und welche Schwächen hatte er aus Ihrer Sicht?

Romanenko: Seine Schwäche ist wahrscheinlich, dass er trotz seiner Forderung danach nicht genügend Ressourcen hatte. Im Grunde reichte es nur für den Angriff in eine Richtung.

Aber er verteilte zu Beginn der Gegenoffensive die Anstrengungen auf gleich drei Richtungen: Bachmut, Berdyansk, Melitopol. Und am Ende des Sommers kam die Richtung Cherson hinzu. Aus militärischer Sicht war das, gelinde gesagt, eine irrationale Entscheidung. Das war schon Ende Juni klar, als wir große Verluste erlitten. Wir hätten die Aktion abbrechen müssen.

Wir haben nur sehr langsam Waffennachschub bekommen, und intern hatten wir das Problem des personellen Nachschubs nicht gelöst. Saluschnyj hätte damals sagen sollen, dass es keine Kraft mehr gibt, dass man nicht nur in Bachmut, sondern auch in Berdjansk und Melitopol anhalten muss. Allerspätestens aber im Juli, als auch NATO-Generäle sagten, dass die Gegenoffensiven überall eingestellt und wir zur strategischen Verteidigung übergehen sollten.

Jetzt haben wir keine nennenswerten Reserven mehr, um den russischen Vormarsch aufzuhalten, der gerade stattfindet.

"Fehlkalkulation des strategischen Managements"

tagesschau.de: Dafür sehen Sie die Hauptverantwortung bei dem damaligen Oberkommandierenden Saluschnyj?

Romanenko: Es war eine Fehlkalkulation des strategischen Managements. Das bedeutet: an der Spitze der Oberbefehlshaber Selenskyj mit politischen Entscheidungen, dann die militärischen Entscheidungen des Oberkommandierenden Saluschnyj und auch des Befehlshabers der Bodentruppen, General Syrskyj, der verantwortlich für die Gegenoffensive in Bachmut war.

tagesschau.de: Wegen der hohen Verluste - auch auf ukrainischer Seite - wird Syrskyj als "Schlächter" kritisiert. Sie kennen ihn. Wie ordnen Sie die Kritik ein?

Romanenko: Im Vergleich zu General Saluschnyj hat General Syrskyj einen härteren Ansatz bei der Organisation der Angriffe. Aber ich denke, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, Oberkommandierender zu sein, hat er die Chance zu zeigen, dass er noch besser sein kann.

"Wird harte Fragen Richtung Regierung stellen müssen"

tagesschau.de: Was wird anders unter einem Oberkommandierenden Syrskyj?

Romanenko: Er wird unter noch schwierigeren Bedingungen arbeiten, als es General Saluschnyj schon tat. Vielleicht wird es ihm helfen, dass er sehr gewissenhaft ist. Er ist da den Deutschen vielleicht sehr ähnlich - in der Planung und den Vorbereitungen der Operationen. Er studiert alles sehr sorgfältig, bis ins Detail.

Aber er wird als oberster Militär im Staat auch harte Fragen in Richtung Regierung stellen müssen. Obwohl er eine relativ enge Beziehung zum Oberbefehlshaber Selenskyj hat. Die Beziehung wird sich meiner Meinung nach verändern.

tagesschau.de: Wird es eine weitere Mobilisierungswelle geben?

Romanenko: Die Notwendigkeit einer weiteren Mobilisierung, bei der es im Großen und Ganzen um Personal für die kämpfenden Truppen geht, ist sehr groß.

Und sie war schon zu Beginn des vergangenen Jahres notwendig, wenn nicht sogar davor. Das ist nichts Neues für Syrskyj. General Saluschnyj hat schon die Frage danach aufgeworfen, und der Präsident selbst hat die Notwendigkeit bestätigt.

Aber es wurde nichts getan. Das ist ein strategischer Fehler. Den versucht man jetzt schnell zu korrigieren, aber es wird nicht schnell gehen. Das ist ein internes Problem.

"Deutlich, dass Putin sich auf weitere Expansionen vorbereitet"

tagesschau.de: Was denken Sie: Hat die Ukraine noch eine realistische Chance diesen Krieg zu gewinnen?

Romanenko: Syrskyj antwortet meist, dass es immer Chancen gibt. Man muss sie nur finden und hart daran arbeiten.

tagesschau.de: Sollte ein zukünftiger US-Präsident Donald Trump im Falle einer Wiederwahl die Hilfe für die Ukraine stoppen beziehungsweise herunterfahren: Ist die Ukraine dann noch in der Lage, sich ohne die militärische Unterstützung der USA weiter zu verteidigen?

Romanenko: Wir sehen ernsthafte Probleme in den Vereinigten Staaten. Trotzdem bedeutet das nicht, dass alle unsere Verbündeten eine solche Position einnehmen werden.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Worte der Unterstützung für Demokratie und Freiheit nicht nur Worte sein werden, sondern dass es konkrete Maßnahmen geben wird, um der Ukraine zu helfen und auch all den anderen Staaten zu helfen.

Denn je weiter es geht, desto deutlicher wird, dass Putin sich auf eine weitere Expansion vorbereitet. Das könnte bedeuten, dass andere Staaten in diesen Krieg verwickelt werden.

Wir haben zwei Jahre Zeit für unsere Verbündeten gewonnen. Und wir gewinnen weiter Zeit für sie. Der Unterschied zwischen ihnen und uns besteht aber darin, dass wir die Leben unserer Soldaten und Zivilisten verlieren. Leider. Unsere Verbündeten verlieren nur einen Teil ihrer Ressourcen. Das ist ein sehr großer Unterschied.

Das Interview führte Susanne Petersohn, ARD Kiew

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 12. Februar 2024 um 20:00 Uhr.