Krieg gegen die Ukraine Zwischenfälle bei Evakuierungen gemeldet
In der Ukraine laufen umfangreiche Evakuierungsmaßnahmen an. Tausende Menschen versuchen, aus den belagerten Städten zu entkommen. Doch die Feuerpause scheint brüchig: Vielerorts wird von Schusswechseln berichtet.
Die Evakuierung von Zivilisten aus belagerten Städten in der Ukraine kommt weiter nur langsam voran. Erneut gab es vielerorts Zwischenfälle. In dem Dorf Demydiw rund 25 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kiew feuerten etwa russische Truppen nach Darstellung der Sicherheitskräfte auf ukrainische Polizisten. Ein Polizist sei dabei getötet, einer schwer verletzt worden, teilten die Beamten mit. Zudem sei ein Zivilist mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht worden. Die Angaben ließen sich nicht überprüfen.
Tausende Zivilisten auf der Flucht
In überfüllten Zügen flohen Tausende Menschen aus der bislang verschonten Schwarzmeer-Metropole Odessa. Auch in anderen Regionen liefen Evakuierungen an. Präsident Wolodymyr Selenskyj teilte mit, derzeit würden rund 18.000 Menschen aus der Hauptstadt Kiew und den umkämpften Städten in deren Nähe evakuiert. Ukrainische Medien veröffentlichten Bilder aus Irpin bei Kiew, die zeigten, wie alte und kranke Menschen auf Tragen und Sackkarren in Sicherheit gebracht wurden. In Worsel nahe der Hauptstadt wurde ein Kinderheim evakuiert.
In der Stadt Sumy im Nordosten des Landes trafen am Mittag Busse ein. Nach Angaben des Vizechefs des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, fuhren zudem im südukrainischen Enerhodar sowie in Isjum nahe Charkiw im Nordosten die ersten Fahrzeuge mit Zivilisten ab.
Sechs Fluchtkorridore sollen Evakuierung ermöglichen
Nachdem am Dienstag erstmals Zivilisten über einen Fluchtkorridor aus der heftig umkämpften Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine in Sicherheit gebracht worden waren, verkündeten Kiew und Moskau die Einrichtung mehrerer weiterer Fluchtkorridore. Wie die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk mitteilte, sollte für sechs Evakuierungsrouten eine zwölfstündige Feuerpause gelten.
Mehrere Versuche, sichere Fluchtrouten zu schaffen, waren zuvor fehlgeschlagen. Moskau und Kiew machten sich gegenseitig dafür verantwortlich. Russlands Außenamtssprecherin Maria Sacharowa warf der ukrainischen Regierung erneut vor, Bemühungen zur Evakuierung von Zivilisten zu behindern.
Kuleba: "Russland hält 400.000 Menschen als Geiseln"
Vor allem in Mariupol funktioniert nach Angaben der Separatisten im Gebiet Donezk der vereinbarte Fluchtkorridor weiterhin nicht. "Die Menschen verlassen Mariupol so schnell wie möglich aus eigener Kraft", sagte der Sprecher der prorussischen Kräfte, Eduard Bassurin, im russischen Staatsfernsehen. Nach seinen Angaben konnten am Dienstag nur 42 Menschen die Stadt am Asowschen Meer verlassen.
Die Ukraine gab den Angreifern die Schuld daran. Außenminister Dmytro Kuleba schrieb bei Twitter: "Russland hält weiterhin mehr als 400.000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung." Der wahllose Beschuss gehe weiter. Ein Versuch, Zivilisten zu evakuieren und dringend benötigte Medizin, Nahrung und Wasser nach Mariupol zu bringen, war bereits am Dienstag gescheitert.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Katastrophale Zustände in Mariupol und anderen Orten
Nach Angaben von Hilfsorganisationen sitzen im seit Tagen umzingelten Mariupol Zehntausende Zivilisten unter "katastrophalen" Umständen fest. Viele Menschen sind ohne fließendes Wasser, Heizung, Kanalisation und Telefonverbindungen. Einige brachen auf der Suche nach Essbarem in Geschäfte ein, andere schmolzen Schnee, um Wasser zu haben. "Es gibt nichts, keine Haushaltsgegenstände. Das Wasser wird nach dem Regen von den Dächern gesammelt", sagte der Leiter des Roten Kreuzes von Mariupol, Alexej Bernzew.
Die Lage in der Hafenstadt sei katastrophal, berichtete auch die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin. Tausende drängten sich in Kellern, die unter dem Einschlag russischer Granaten erzitterten. Sie warteten auf Nachrichten über Evakuierungsmöglichkeiten. Wegen der Stromausfälle konnten viele nur mit ihren Autoradios Neuigkeiten empfangen. Nachrichten zu beschaffen und weiterzugeben sei zu einer der wichtigsten Aufgaben seiner Organisation geworden, sagte Bernzew. "Manchmal sind Informationen für die Menschen wichtiger als Nahrung."
Auch in anderen ukrainischen Städten ist die humanitäre Lage nach Ansicht des Weltkongresses der Ukrainer verheerend. Es gebe einen Lebensmittelnotstand in den größeren Städten, die derzeit vor allem unter Beschuss stünden, sagte der Leiter des Büros für die Koordinierung humanitärer Initiativen des Weltkongresses, Andrij Waskowycz. Vielerorts seien Lebensmittellieferungen zu gefährlich. Der Bürgermeister von Tschernihiw, eine Großstadt am Ufer der Desna und bedeutender Standort der ukrainischen Armee, meldete, zwei Drittel der Haushalte seien ohne Strom und Wasser.
Geringe Erwartungen an Treffen in Antalya
Am Donnerstag sollen die Außenminister Russlands und der Ukraine, Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba, im türkischen Antalya Gespräche führen. Die russische Führung sprach von "Fortschritten" bei der Beilegung des Konflikts.
Kuleba sagte, er habe keine allzu hohen Erwartungen an das geplante Treffen. "Aber wir werden fraglos maximalen Druck ausüben", betonte er in einem auf Facebook veröffentlichten Videoclip. "Unser Interesse ist die Einstellung des Feuers, die Befreiung unserer Gebiete und als dritter Punkt die bedingungslose Lösung aller humanitären Probleme, der Katastrophen, die von der russischen Armee geschaffen wurden." Er hoffe, dass Lawrow tatsächlich nach einer Lösung suchen wolle, wie der Krieg zu beenden sei, sagte Kuleba - "und nicht aus propagandistischen Gründen" anreise.
Das russische Außenministerium erklärte, die russischen Truppen im Nachbarland hätten nicht den Auftrag, "die aktuelle Regierung zu stürzen". Auch die Besetzung der Ukraine oder "die Zerstörung ihrer Eigenstaatlichkeit" seien nicht das Ziel, sagte Ministeriumssprecherin Sacharowa. Es liefen Verhandlungen mit der ukrainischen Seite, "um dem sinnlosen Blutvergießen und dem Widerstand der ukrainischen bewaffneten Truppen ein Ende zu machen".