Gewalt in Pariser Vororten "Hier wird Krieg ausgetragen"
Tödliche Prügeleien unter Jugendlichen in den Pariser Vorstädten entsetzen Frankreich. Doch die Gewalt zwischen verfeindeten Jugendbanden ist nicht neu. Sie wird auch durch Perspektivlosigkeit genährt.
Es ist nicht viel los in Boussy-Saint-Antoine, einer Stadt knapp 30 Kilometer südlich von Paris. Neben dem leicht heruntergekommen Bahnhof, an dem die Vorstadtzüge halten, gibt es ein modernes Einkaufszentrum mit Bowlingbahn und Kino, sonst allerdings nicht viel.
Eine breite Hauptstraße geht mitten durch den Ort, sie verbindet Boussy-Saint-Antoine mit zwei anderen Kleinstädten, mit Quincy-Sous-Sénart im Süden und Epinay-sous-Sénart im Norden. "Wir sind hier auf neutralem Boden", sagt Maxime Jacquement. Was klingt wie ein Hollywood-Action-Film über Bandenkriege ist in Boussy-Saint-Antoine bittere Realität: "Hier wird der Krieg ausgetragen, zwischen dem Städtchen da und dem da drüben, zwischen Epinay und Quincy."
Polizeibänder sperren einen Tatort in Boussy-Saint-Antoine bei Paris ab, wo ein 14-jähriger Teenager getötet worden war.
Jünger, brutaler
13, 14, 15 Jahre alt sind diejenigen, die sich in Boussy-Saint-Antoine brutal zusammenschlagen. Und sie würden immer jünger, sagt Jacquement, die Übergriffe immer brutaler. Der 43-Jährige ist hier aufgewachsen. Die Feindschaft zwischen den Nachbarstädten sei immer dagewesen. Woher sie kommt, weiß er nicht.
Heute leitet Jacquement einen Thai-Box-Club und trainiert Jugendliche aus allen drei Städten. Über den Sport versucht er, die Rivalität, wenn schon nicht zu überwinden, dann doch zumindest in geordnete Bahnen zu lenken.
Aber lange nicht alle Jugendliche haben Hobbys. Viele entziehen sich solch sozialen Auffangnetzen, hängen auf der Straße ab und suchen sich durch Gewalt ihre Bestätigung. Und ab und zu würden sie sich abpassen.
Dann heißt es, 'der ist aus dem falschen Viertel, kommt, wir schlagen ihn zusammen'. Sie gehen mit Hämmern aufeinander los und mit Messern. Der eine sticht zu, der andere zieht ihm den Hammer über den Kopf und lässt ihn dann blutend auf dem Bahnsteig liegen.
Die Polizei will mehr Präsenz zeigen. Aber Bewohner bezweifeln, dass das alleine das Problem löst.
Ein Alarmsystem soll helfen, aber ...
Jedes Mal, wenn Boxtrainer Maxime Jacquement auch nur das leiseste Anzeichen einer Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen aus Quincy und Epinay hört, informiert er die Polizei und die Stadt. Ein Alarmsystem der Städte wurde schon vor Jahren ins Leben gerufen.
Sporttrainer, aber auch Lehrer, Eltern, Leiter und Mitarbeiter von Jugendeinrichtungen halten Augen und Ohren offen. Aber das, was im Februar geschah, habe niemand kommen sehen, sagt Romain Colas, sozialistischer Bürgermeister von Boussy-Saint-Antoine. Die Provokationen, die der Schlägerei vorausgegangen seien und die Verabredung zu einem Treffen seien wohl über Messengerdienste und soziale Netzwerke gelaufen. Und darüber habe man keine Kontrolle.
Digitale Absprachen zur Gewalt
Früher wurden Verabredungen zur Schlägerei auf dem Pausenhof getroffen, heute läuft es über Snapchat, Tiktok und Co. Mit Videos, die teils extreme Gewalttaten zeigen, stacheln sich die Jugendlichen auf. Auch deswegen, sagt Bürgermeister Colas habe die Brutalität der Schlägereien im Laufe der Jahre immer mehr zugenommen.
Wir müssen das durchbrechen. Es ist doch unser kollektives Versagen. Das Versagen der Institutionen, der Politik, auch der lokalen Politiker hier.
Seit Ende Februar ein Jugendlicher im Pariser Vorort Pont du Bois nach einer Schlägerei zwischen verfeindeten Banden starb, diskutiert Frankreichs Öffentlichkeit über die Ursachen.
Streit um die Rolle der Eltern
Colas fasst sich an die eigene Nase. Gleichzeitig aber fordert er die Regierung auf, mehr zu tun, um den Jugendlichen in den Vorstädten bessere Bildungs- und Berufsperspektiven zu bieten. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin macht vor allem auch die Eltern der Jugendlichen verantwortlich. Sie hätten eine Aufsichtspflicht, die Gesellschaft könne nicht alles auffangen.
Dem widerspricht Bürgermeister Colas vehement. Es greife viel zu kurz, generell von einem elterlichen Versagen zu sprechen. Er erzählt von der alleinerziehenden Mutter des getöteten Jungen, die Tag und Nacht gearbeitet habe und nicht für ihre fünf Kinder habe dasein können.
Sie habe gesehen, dass ihr Kind auf die schiefe Bahn gerät und mit der Schule und anderen Stellen gesprochen. "Sie ist alles andere, als eine Mutter, die versagt hat. Und ein Teil der Wahrheit ist auch, dass wir, dass das System diese Mutter nicht gehört hat, ihr nicht helfen konnte."
Die Facetten der Machtlosigkeit
Dem stimmt auch Boxtrainer Maxime Jacquement zu. Er verliert immer wieder anfangs motivierte Jugendliche an die Straße. Dann, wenn der Druck zu groß wird, dann wenn die Probleme in der Schule, in der Familie und die fehlende Perspektive mit Wucht zuschlagen. Da sei er genauso machtlos, wie bei den extrem brutalen Ausbrüchen der Gewalt unter den Jugendlichen selbst.