Corona in Russland Putins freie Woche für alle bringt Probleme
Gegen die Ausbreitung des Coronavirus hat Russlands Präsident Putin eine arbeitsfreie Woche angeordnet. Doch Experten warnen: Die Maßnahme schade weit mehr, als dass sie nutze.
Familie Tipitschew packt die letzten Taschen und Tüten ins Auto. Drei Stunden Fahrt liegen vor ihnen, wenn die Staus nicht allzu schlimm sind. Doch die Staus sind schlimm, das ganze Wochenende schon. Denn wie die Tipitschews scheint ganz Moskau beschlossen zu haben, auf die Datscha zu fahren. Viele Russen haben solche Sommerhäuschen vor der Stadt. Und diesmal lohnt sich die Fahrt: Präsident Wladimir Putin hat vor ein paar Tagen fast dem ganzen Land eine Woche arbeitsfrei verordnet: "Es ist jetzt wichtig, die schnelle Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Deshalb erkläre ich die kommende Woche für arbeitsfrei - unter Weiterzahlung der Gehälter."
Julia Tipitschewa steigt mit einer Freundin, drei Kindern und Hund in ihr vollgepacktes Auto. "Auf dem Land ist die Luft viel besser, da sind nicht so viele Leute. Da können wir doch wohl hin? Keiner hat es verboten, dass man aufs Land fährt."
Eine freie Woche auf dem Land: Julia Tipitschewa entspannt beim Essen mit ihrer Familie in der Datscha.
Von Moskau übers ganze Land
Genau das ist das Problem. Putin hat zwar ermahnt, verantwortungsbewusst zu handeln, an die Nächsten zu denken - aber das Erlassen von unangenehmen Verboten überlässt er anderen. Er hat dem Volk eine freie Woche beschert - die Städte und Regionen müssen nun sehen, wie sie klarkommen.
Dutzende Flüge sind allein aus Moskau über das Wochenende nach Sotschi ans Schwarze Meer gestartet. Die weitaus meisten der russischen Corona-Infektionen wurden in Moskau registriert - an diesem Wochenende dürfte das Virus wohl in viele andere Gegenden getragen worden sein. Sotschi hat jetzt die Notbremse gezogen: In der arbeitsfreien Woche dürfen keine Betten vermietet werden. Buchungen werden storniert, wer schon angereist ist, wird mit Charterflügen zurückgeschickt.
Regionale Politiker sind auf sich gestellt
In St. Petersburg traute sich der Gouverneur sogar, Kirchen zu schließen - und legte sich mit der orthodoxen Kirche an. Die hielt es lange nicht für nötig, die Gottesdienste abzusagen. Erst heute rief Patriarch Kirill die Gläubigen auf, lieber zu Hause zu beten. In vielen großen Kirchen, etwa in der St. Petersburger Isaaks-Kathedrale, wird es aber schnell noch letzte große Gottesdienste geben.
Moskaus Bürgermeister entpuppt sich ebenfalls als mutiger Krisenmanager. Am Samstag hatte er schon alle Parks und Restaurants schließen lassen, erließ eine Ausgangssperre für Menschen ab 65 und andere unpopuläre Regeln. Schülern und Studenten sperrte er kurzerhand die Monatskarten für Bus und Metro - auch so kann man Corona-Partys verhindern. Ab Montag darf man die Wohnung sogar nur unter anderem zum Einkaufen, für den Gang zur Apotheke und in bestimmten Fällen für den Weg zu Arbeit verlassen.
Schlange stehen in Moskau - aber mit Abstand. Die russische Hauptstadt ist das Corona-Epizentrum des Landes.
"Sonst schlittern wir in eine Katastrophe"
Längst ist klar: Putins Anordnung der freien Woche war derart missverständlich, dass sein Sprecher Dmitri Peskow nachjustieren musste. Gemeint seien nicht Feiertage, sondern es gehe darum, Kontakte zwischen Menschen zu reduzieren. Das alles reiche nicht, glaubt der Ökonomieprofessor Ruben Enikolopow. Er ist einer von 14 führenden Wirtschaftswissenschaftlern, die Putins Maßnahmen in einer Erklärung kritisieren. Man brauche sofort eine strenge Quarantäne - und massive Hilfen für die Wirtschaft.
"Es wäre richtig, jetzt ehrlich zu sein und zu sagen: Es braucht eine harte Quarantäne, die Leute müssen zu Hause bleiben", sagt Enikolopow. Stattdessen gebe es diese freie Woche, die dann auch noch von den Betrieben bezahlt werden müsse: "Der Staat sagt quasi den Unternehmen, sie sollten Corona auf eigene Rechnung bekämpfen."
Denn die Unternehmen sollen, so hat es Putin verfügt, trotz Geschäftsausfalls die Löhne und Gehälter weiter zahlen. Dabei balancieren viele jetzt schon am Abgrund. Der Ölpreisverfall und jetzt die Corona-Krise sind ein Doppelschlag, den viele kaum verkraften. Enikolopow fordert schnelle, milliardenschwere Hilfen; das Land könne sich das leisten, und es sei billiger, jetzt angeschlagene Betriebe durchzuziehen, als später ganz von vorn zu beginnen. Tatsächlich ist Russlands Reservefonds gut gefüllt. "Es ist jetzt nicht die Zeit, über ein ausbalancierten Etat nachzudenken. Europa hat das erkannt, wir noch nicht. Man muss an die Reserven, richtig viel ausgeben - sonst schlittern wir in die Katastrophe", warnt Enikolopow.
Ein Schaffner steht in der Tür eines Zuges von Moskau nach Kiew.
Auf Ignoranz folgt die Inszenierung
Lange hat man, so scheint es, das Virus in Russland nicht ernst genommen. Zwar hat man die 4200 Kilometer lange Landgrenze mit China schnell geschlossen - doch getestet wurde nicht. Auch deshalb wohl verzeichnet Russland noch relativ wenige Infektionen. Auch Putin hat sich erst in der vergangenen Woche das erste Mal ausführlich zum Thema Corona geäußert und die Isolierstation einer Klinik besucht - in knallgelbem Ganzkörperanzug mit einer Art Tauchermaske und Spezialschuhen. Diese Bilder haben ihre Signalwirkung nicht verfehlt: Jetzt sieht man Masken in der Stadt, Leute stehen stundenlang an, um den von einem Privatlabor angebotenen teuren Schnelltest zu machen.
Wer auf die Datscha geflohen ist, ist wohl gut beraten, erstmal dort zu bleiben. Julia Tipitschewas Kinder lernen vor dem Laptop, denn auch in Russland sind die Schulen geschlossen. Julia hat die Bilder aus Italien gesehen, die plötzlich nicht mehr so weit weg wirken. Sie hat Angst um ihren Job, sie ist Managerin bei einer Handelsfirma. Sie wolle nicht in Panik verfallen, sagt sie. Aber ihr sei jetzt klar, dass man das alles sehr ernst nehmen müsse.
Coronavirus ist die geläufigste Bezeichnung für das neuartige Virus aus China. Dessen offizieller Name, den die WHO festgelegt hat, lautet Sars-CoV-2. Die aus dem Virus resultierende Lungenkrankheit heißt Covid-19.