Politologe Glees zum Brexit "Wo man auch hinschaut - nur Chaos"
Die britischen Abgeordneten im Parlament sind weiterhin hin- und hergerissen, sagt Anthony Glees im tagesschau.de-Interview. Großbritannien will von der EU profitieren und trotzdem den Brexit. Das führe ins Chaos.
tagesschau.de: Wie konnte es gestern Abend zu diesem Ergebnis kommen?
Anthony Glees: Es gibt im Parlament keine einheitliche Mehrheit für irgendeine Art von Brexit. Der harte Brexit ist von kaum jemandem gewollt. Zwar haben die Briten sich - knapp - in Juni 2016 für den Brexit entschieden, aber es gab keine Einstimmigkeit was der Brexit bedeute, oder wie er zu Stande gebracht werden sollte. Hieraus stammt das Chaos von heute.
Der Wunschtraum des Parlaments ist ein Brexit, der die Vorteile eines EU-Mitglieds erhält, obwohl Großbritannien offiziell nicht mehr zur Europäischen Union gehört. Natürlich funktioniert das so einfach nicht, die Regeln für den Binnenmarkt und die Zollunion erlauben das nicht, aber das ist die Meinung vom Parlament.
tagesschau.de: Nur nehmen, nicht geben - das kann in der Europäischen Union nicht funktionieren. Warum sehen das die Abgeordneten in Großbritannien nicht?
Glees: Es ist der Mehrheit der Abgeordneten jetzt wahrscheinlich bewusst, dass es so in der EU nicht funktionieren kann. Aber sie haben das Ergebnis vom Brexit-Votum von vor zweieinhalb Jahren vor Augen - und sie meinen, dass sie diesem Ergebnis irgendwie gerecht werden müssen.
Andererseits denken diese Abgeordneten, dass sie die Bevölkerung auch vor großer Arbeitslosigkeit und anderen schweren wirtschaftlichen Folgen schützen müssen. Sie selber fürchten die Konsequenzen, denn man würde ihnen die Verantwortung geben. Sie sind hin- und hergerissen.
Was sich nun geändert hat, ist, dass das Parlament gestern sagte, es habe kein Vertrauen mehr in den Plan von Theresa May. Auch wenn eine Mehrheit weiterhin Vertrauen in May als Premierministerin hat. Das Parlament wird jetzt versuchen, einen eigenen Plan zu machen.
tagesschau.de: Wie könnte dieser Plan aussehen?
Glees: Es gibt eine kleine Minderheit, die gerne einen Absturz aus der EU sehen würde - aber mit dieser Minderheit kommt man nicht durchs Parlament. May kommt allerdings auch mit ihrem Plan nicht durch das Parlament: Sie hat es gestern versucht und ist damit gescheitert.
Bleibt also zum einen die Möglichkeit eines zweiten Referendums. Eine andere Möglichkeit wäre, Mitglied der EU zu bleiben. Oder man versucht sich an einer weiteren Sonderstellung Großbritanniens: Die Abgeordneten würden versuchen, einen klugen Brexit-Plan zu entwickelt, bei dem eigentlich alles so bleibt, wie es ist - Großbritannien aber trotzdem kein EU-Mitglied mehr wäre.
tagesschau.de: Welche Optionen bleiben Theresa May noch?
Glees: Meiner Meinung nach ist sie fertig. Es ist ihr politisches Aus für sie als Premierministerin - auch, wenn sie heute Abend gewinnen sollte. Sie hat keine Glaubwürdigkeit mehr. Es fehlt ihr an Urteilskraft, das hat sich gestern wieder bestätigt. Man kann auch nicht mehr mit ihr verhandeln. Sie hat bewiesen, dass die mit ihr verhandelten Dinge nicht durch das Unterhaus kommen.
Der Rücktritt von May ist für mich nur eine Frage der Zeit. Das kann sehr, sehr schnell gehen - es kann aber auch noch Wochen oder Monate dauern. May ist von ihrer Stelle besessen. Sie findet sich schon seit einiger Zeit in einer Art Bunkermentalität.
tagesschau.de: Ist es also Zeit für Neuwahlen?
Glees: Neuwahlen wären jetzt das richtige. Ob es allerdings dazu kommen wird, bezweifele ich stark. Wo man auch hinschaut, sieht man nur Ungewissheit und Unberechenkbarkeit und - kurz gesagt - Chaos. Die Tories haben kein Interesse an Neuwahlen, obwohl sie bei Umfragen fünf Punkte vor der Labour-Partei liegen. Wir haben eine Regierung, die nicht regieren kann und eine Premierministerin, die mit ihrem Plan nicht durch das Unterhaus kommt. Und trotzdem würde das Volk laut Umfragen weiterhin für die Tory und nicht die Labour-Partei stimmen.
tagesschau.de: Ist ein radikaler Neuanfang mit einem neuen, unverbrauchten Premierminister der einzige Weg?
Glees: Ich glaube, die Briten müssten eine Fristverlängerung beantragen - und die EU wäre vernünftig, diese Verlängerung zu genehmigen. Wir brauchen mehr Zeit. Wenn die Uhr tickt, werden die Entscheidungen nicht besser. Wenn sich alle die Zeit nehmen, sich wirklich darüber klar zu werden, was das bedeutet, dann würden alle profitieren.
tagesschau.de: Wie viel Zeit braucht Großbritannien denn noch?
Glees: Die oberste Priorität ist doch, den Brexit richtig zu regeln - selbst wenn das noch ein Jahr länger dauern sollte. Alle sind sich darüber einig dass das, was jetzt ausgehandelt wird, das Leben der nächsten Generation prägen wird. Dass man das bis Ende März hinkriegen soll, ist doch unzumutbar.
tagesschau.de: Wie ist die Stimmung unter den Briten?
Glees: Der Bevölkerung fehlt das Verständnis. Ihnen ist nicht klar, dass der Brexit sie ärmer machen würde, dass die Arbeitslosigkeit steigen würde. Die Preise in Großbritannien sind in den vergangenen zwei Jahren bereits um 18 Prozent gestiegen - und das, obwohl das Land noch Mitglied der EU ist. Wie viel schlimmer wird es noch sein, wenn wir einen harten Brexit durchziehen? Den Briten wurde von den Brexit-Befürwortern versprochen, dass nach einem Brexit alles besser werden würde. Was die Bevölkerung aber sagen wird, wenn ihnen der Ernst ihrer Lage erstmal bewusst wird, ist noch nicht klar.
tagesschau.de: Wie geht es jetzt weiter?
Glees: Es gibt viele Varianten. Es kann sein, dass Frau May bleibt, sie aber machtlos ist. Das Parlament kann sich auflösen - oder auch nicht. Aus politikwissenschaftlicher Sicht muss man sich die Frage stellen, ob die Parteienstruktur, die wir jetzt in Großbritannien haben, so noch weiterleben kann. Wäre es nicht vernünftiger, die Tory- und die Labour-Partei aufzuspalten und so das starre Zwei-Parteien-System aufzubrechen? Vielleicht sollte man die alten Strukturen einmal überdenken.
tagesschau.de: Sehen Sie eine baldige Lösung für Ihr Land?
Glees: Wir sind in diese tiefe Staatskrise gerutscht, weil es eben keine einfache Lösung zu diesem Problem gibt. Das haben wir gestern Abend wieder gesehen. Was May angeboten hat, war für sie ein Kompromiss. Aber das Parlament ist zu diesem Kompromiss nicht bereit. Es ist keine Patentlösung in Sicht.
Das Interview führte Dominika Jaschek, tagesschau.de