Russische Kriegsgefangene
reportage

Kriegsgefangene in der Ukraine Verachtung und unterdrückte Wut

Stand: 02.11.2023 08:08 Uhr

Seit Beginn des Krieges sind viele Angehörige der russischen Armee in ukrainische Kriegsgefangenschaft geraten. Sie sitzen in Gefängnissen oder im landesweit einzigen Kriegsgefangenenlager. Andrea Beer hat mit einigen von ihnen gesprochen.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Hunderte Männer in teils ausgebleichten grauen und blauen Jacken und Hosen sitzen in der Kantine des einzigen Camps für Kriegsgefangene der russischen Armee in der Ukraine. Wo es genau liegt und wie viele Männer dort eingesperrt sind, ist nicht öffentlich bekannt. An diesem Tag steht unter anderem Eintopf mit Fleisch und Kartoffeln mit Weißbrot auf dem Speiseplan.

"Danke für das Mittagessen"

Gefangene, die fertig sind, stehen auf, verschränken die Arme auf dem Rücken und sagen auf ukrainisch im Chor "Danke für das Mittagessen". Die Männer essen in Schichten, und die Warteschlange reicht von der Essensausgabe die Treppe hinunter bis in den Hof hinaus. An den hohen Steinmauern mit Stacheldraht hängen Bilder ukrainischer Persönlichkeiten der vergangenen Jahrhunderte und aller bisherigen Präsidenten seit der Unabhängigkeit. Die Ukraine, die der Kreml vernichten will, hat eine lange Geschichte, so die Botschaft.

Russische Gefangene in der Kantine.

Russische Gefangene in der Kantine.

Die Kriegsgefangenen stammten aus Russland und den russisch besetzten Gebieten der Ukraine, sagt Petro Jazenko von der zuständigen Koordinierungsstelle in Kiew, der durch das Camp führt. Die Mehrheit der Männer sitze keine Strafe ab, doch ein Teil sei wegen Kriegsverbrechen verurteilt.

Jazenko nennt dabei Erschießungen ukrainischer Zivilisten. "Das bekannteste Beispiel ist Butscha. Aber in jeder russisch besetzten Stadt gab es Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, Menschen wurden grundlos getötet, gefoltert und vergewaltigt. Und die das taten, sind eigentlich Kriminelle, die den Krieg nutzen, um Verbrechen zu begehen."

"Sie betrachten uns als Terroristen"

Das sei alles frei erfunden, behauptet der Kriegsgefange Ruslan, der in einer Werkshalle Gartenmöbel zusammenbaut. Der mürrische Mann Anfang 40 beklagt sich über das Essen und die täglichen Appelle. Er stammt aus der russisch besetzten Stadt Donezk und sagt, die Ukraine habe den Donbas angegriffen. "Sie betrachten uns als Terroristen, als Separatisten. Entschuldigung, aber wenn man anfängt, uns zu töten, was werden wir dann wohl machen?"

Auf der Krankenstation stehen Betten eng nebeneinander. Die Verwundeten dort haben entstellte Gesichter, verbundene Köpfe, amputierte Arme und Beine oder auch ein Magengeschwür. Einige lesen, andere folgen den Journalisten mit Blicken, die wirken wie eine Mischung aus Interesse, Verachtung und unterdrückter Wut.

Russische Gefangene bauen in einer Werkshalle Gartenmöbel.

In einer Werkshalle werden Gartenmöbel gefertigt.

Nichts mitbekommen von Grausamkeit der Wagner-Truppe?

Hunderte Kilometer entfernt sitzt Dmitrij Worobjow im Keller eines offiziellen Gebäudes in Kiew. Der 41-Jährige trägt eine russische Uniform und wird von einem bewaffneten ukrainischen Soldaten bewacht. Gleich dreimal hat der Russe aus der Region Wolgograd bei den berüchtigten Wagner-Söldnern angeheuert - wegen des Geldes, wie er sagt. Er habe unter anderem bei Bachmut gekämpft und sei mehrmals verwundet worden. Von etwa 25 Leuten, mit denen er angefangen habe, hätten nach knapp zwei Wochen noch fünf gelebt.

Von den Grausamkeiten der Wagner-Truppe habe er nichts mitbekommen, sagt Worobjow. Er sei ein unpolitischer Mensch. Mitte Juli wechselte er dann zur regulären russischen Armee und kam zurück in die Ukraine, wo er sich Anfang September ergeben habe. Einen Unterschied zwischen den Wagner-Söldnern und der russischen Armee macht Worobjow nicht.

"Einfach weg von allem"

Aleksandr Gaponow aus Tscheljabinsk hat sich aus einem russischen Gefängnis zur Armee gemeldet. Jetzt sitzt er in einem nüchternen Raum des Kriegsgefangenenlagers für Angehörige der russischen Invasionstruppen. Der 28-Jährige war in Russland wegen eines Raubüberfalls zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er meldete sich aus der Haft freiwillig für die Ukraine und kam in eine sogenannte "Sturmtruppe Z". Laut dem amerikanischen Institute for the Study of War bestehen diese Einheiten vorwiegend aus rekrutierten Häftlingen, die an besonders gefährlichen Frontabschnitten eingesetzt werden.

Er sei im Juli in der ukrainischen Region Saporischschja an den Beinen so schwer verwundet worden, dass er nur noch habe kriechen können, sagt Gaponow. "Sie wollten mich erst am Abend evakuieren, und ich sagte, dass ich bis dahin vielleicht nicht mehr leben würde. Ich bin weitergekrochen, einfach weg von allem, und wurde dann von den Ukrainern gefangen genommen."

Russische Seite tauscht weniger Gefangene aus

Die ARD führte die Interviews im Kriegsgefangenenlager ohne ukrainische Aufsicht. Doch die Gefangenen zensieren sich wohl ohnehin selbst. Alle, mit denen wir reden, sagen, sie hätten nichts gewusst von sadistischen Grausamkeiten der russischen Seite gegenüber ukrainischen Kriegsgefangenen oder vom Töten, Foltern und Vergewaltigen ukrainischer Zivilistinnen und Zivilisten. Oder sie nennen diese Taten erfunden.

Die Kriegsgefangenen wollen zurück nach Tscheljabinsk oder Donezk. Doch seit dem Sommer gebe es - bis auf Ausnahmen - nur sehr wenig Gefangenenaustausch, sagt Jazenko von der Kiewer Koordinierungsstelle. "Die russische Seite hat diesen Prozess leider eingefroren, und das ist ein sehr großes Problem."

Jazenko wäre es am liebsten, alle Männer aus dem Kriegsgefangenenlager würden gegen ukrainische Gefangene ausgetauscht werden: "Eines können Sie mir glauben, ich wäre sie lieber heute als morgen los."

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 02.11.2023 06:55 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 02. November 2023 um 06:27 Uhr.