Nordsyrische Kurdengebiete Zittern vor Erdogans Angriff
Beobachter rechnen damit, dass der türkische Präsident Erdogan seine Drohung einer Offensive wahrmacht, um Kurden zu vertreiben und syrische Flüchtlinge anzusiedeln. Doch wann er einmarschiert, bleibt unklar.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat als Vermittler im Ukraine-Krieg leider nichts bewirken können. Bei einem anderen Konfliktherd schafft er es jedoch, dass sich die Gegenpole USA, Russland, Iran und Syrien ausnahmsweise einig sind. Sowohl Washington, Moskau, Teheran als auch Damaskus lehnen ab, was die Türkei seit Wochen ankündigt: eine neue Offensive in Nordsyrien.
Erdogan will die Kurden aus dem Grenzgebiet zur Türkei vertreiben und dort stattdessen syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln. Weil Erdogan sich davon auch einen innenpolitischen Befreiungsschlag erhofft, fragen sich die meisten Menschen in Nordsyrien nicht, ob Erdogan seine Drohung wahrmacht - sondern wann er einmarschiert.
"Wir sind vorbereitet"
Kommandeur Muhammad Kabso ist Mitglied der Al Jabat al Shamiya, der Levante-Front, die sich der sogenannten Freien Syrischen Armee angeschlossen hat. Die wiederum ist de facto eine türkische Söldnertruppe in Nordsyrien.
Er steht in Tarnkleidung vor der Kulisse verdorrter Sträucher. Schusssichere Weste und Patronengurt um den Körper signalisieren Kampfbereitschaft. "Wir sind vorbereitet, haben unser Training beendet und warten auf den türkischen Befehl, damit der Kampf beginnen kann", sagt er.
Der Angriff, von dem Kabso spricht, soll den Gebieten Manbidsch und Tall Rifaat gelten, so hat es Erdogan schon vor Wochen angekündigt. Erklärtes Ziel ist es, die sogenannten kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG aus einem 30 Kilometer breiten Streifen jenseits der türkischen Grenze zu vertreiben. Denn die seien der syrische Arm der in der Türkei und Europa als Terrororganisation verbotenen PKK und damit eine Bedrohung für die Türkei.
Überhaupt - die Kurden gehörten gar nicht hierher, meint Kommandeur Kabso: "Die Kurden müssen hier raus, es ist nicht ihr Gebiet." Die Kurden in den Dörfern kämen nicht aus dieser Gegend, sie seien hereingezogen und hätten sich hier "festgesetzt", sagt Kabso. "Wir sind die Einwohner dieser Gegend und dieser Dörfer, wir wollen in unsere Dörfer zurück, und unsere Flüchtlingsfamilien sollen zurückkehren."
Kurden kündigen Widerstand an
Es waren jedoch kurdische Kämpfer, die 2016 den sogenannten Islamischen Staat aus Tall Rifaat vertrieben. Manbidsch, die wichtigste Stadt der Region, ist bereits seit zehn Jahren unter kurdischer Verwaltung.
Und so soll es bleiben, sagt Ahmed Jibna, Kommandeur der kurdischen YPG, in seiner Stellung nahe der türkischen Grenze. Sie hätten Vorsichtsmaßnahmen getroffen und sich auf den Krieg vorbereitet. "Mit Gottes Willen werden wir Widerstand leisten, weil wir hierhergehören, und wir bestehen auf unser Recht. Wir wollen weder Assads Armee, noch die Söldner, noch Türken. Die Türkei will doch wieder an glorreiche osmanische Zeiten anknüpfen," sagt Jibna.
Tatsächlich wurden während des Osmanischen Reichs in Manbidsch tscherkessische Flüchtlinge angesiedelt - als regierungstreues Gegengewicht zu aufständischen Beduinen. Nun sollen die Kurden in Schach gehalten werden.
Der Angriff, den der türkische Präsident Erdogan angekündigt hat, soll den Gebieten Manbidsch und Tall Rifaat gelten.
Auswirkungen auf die Bevölkerung
Nur wann die Offensive beginnt, ist noch völlig unklar. Deutlich hingegen sind bereits jetzt die Auswirkungen auf die Bevölkerung. Bisher sei Mandidsch der sicherste Ort Syriens gewesen und das wirtschaftliche Zentrum der Region, sagt Adnan Al-Marai, der dort einen Großhandel für Motoröl betreibt: "Mein Lager war voll. Doch seit der türkischen Drohung ist es leer. Meine gesamte Ware habe ich inzwischen aus Manbidsch weg und in Sicherheit gebracht." Das hätten die meisten Händler so gemacht - aus Angst vor dem Krieg.
Auch eine Fabrik, in der Kartoffeln verarbeitet werden, wurde inzwischen auf die andere Seite des Euphrat verlagert, ins gut 100 Kilometer entfernte Rakka, eine Großbäckerei in Manbidsch geschlossen.
Weltpolitische Lage verschafft Atempause
Bereits seit Wochen beschießt die Türkei immer wieder grenznahe Dörfer, türkische Aufklärungsdrohnen schwirren über dem Gebiet. Die Offensive könnte jederzeit beginnen, oder auch nicht. Erdogan will in den zu erobernden Gebieten syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln - was in der Türkei viele gerne hören.
Doch Flüchtlinge gibt es hier bereits. Viele Familien aus Aleppo und Idlib haben in Manbidsch Zuflucht gefunden.
In einer der Zeltstädte dort lebt die Aisha Nasr mit ihren acht Kindern. Die 50-Jährige sorgt sich wegen der angekündigten türkischen Offensive: Sie seien inzwischen schon zwei Mal geflohen und hätten jedes Mal viel durchmachen müssen. "Hier fühlen wir uns wieder einigermaßen wohl. Doch nun haben wir Angst, dass wir noch mal fliehen müssen. Wir wüssten nicht, wohin", erzählt Nasr.
Im Moment verschafft ihnen die verfahrene weltpolitische Lage eine Atempause. Denn Erdogan stößt mit seinen Plänen für eine neue Offensive in Syrien auf Widerstand. Nicht nur auf Seiten der USA, was zu erwarten war, weil die mit den Kurden im Kampf gegen den "Islamischen Staat" kooperieren. Auch Russland und der Iran verweigerten Erdogan ihre Zustimmung für einen Angriff. Beide streben an, dass ganz Syrien wieder unter die Kontrolle von Machthaber Assad fällt.
Und dann sind da noch die Verhandlungen über einen NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, den die Türkei blockiert. Gut möglich, dass Erdogan vor einem Angriff den NATO-Gipfel Ende Juni abwartet.