Bergkarabach Erste Flüchtlinge erreichen Armenien
Nach der Eroberung des vornehmlich von Armeniern bewohnten Bergkarabach durch Aserbaidschan haben erste Flüchtlinge Armenien erreicht - die Rede ist von mehr als Tausend Menschen. Außenminister Mirsojan forderte eine UN-Mission in Bergkarabach.
Nach dem militärischen Sieg Aserbaidschans in Bergkarabach haben die ersten Flüchtlinge aus der Kaukasusregion Armenien erreicht. Am späten Sonntagabend sprach die armenische Regierung auf Facebook von 1050 Personen, die aus Bergkarabach nach Armenien einreisten. Am Nachmittag war noch von 377 Menschen die Rede gewesen.
Wie AFP-Korrespondenten an der Grenze beobachteten, wurde eine Gruppe von einigen Dutzend Menschen von aserbaidschanischen Grenzschutzbeamten befragt, bevor sie in das Dorf Kornidsor durchgelassen wurde. Dort wurden die Flüchtlinge von armenischen Beamten in einem eigens eingerichteten Ankunftszentrum registriert. Unter den Flüchtlingen waren Frauen, Kinder und alte Leute.
120.000 armenische Bewohner in Bergkarabach
Auf armenischer Seite hatten Menschen seit Tagen auf die Ankunft der Flüchtlinge aus Bergkarabach gewartet. Aserbaidschan hatte in dieser Woche nach einer Offensive die volle Kontrolle über die Region wiedergewonnen. Seitdem stieg auch international die Sorge um das Schicksal der rund 120.000 armenischen Bewohner Bergkarabachs. Aserbaidschan will das Gebiet wiedereingliedern.
Die Karabach-Armenier befürchten eine Vertreibung oder nach Jahrzehnten des Konflikts die Rache des autoritär geführten Aserbaidschans. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan hatte zuvor erklärt, sein Land stelle sich auf die Ankunft Zehntausender Flüchtlinge ein. Es sei mit einem wachsenden Strom an Flüchtlingen zu rechnen, weil Aserbaidschan eine Politik ethnischer Säuberungen verfolge, sagte Paschinjan. Die armenische Regierung sei bereit, die Bevölkerung von Karabach aufzunehmen, wenn alle Versuche scheiterten, deren Rechte vor Ort zu schützen.
US-Außenminister Antony Blinken übermittelte einem Sprecher zufolge Paschinjan in einem Telefongespräch die "tiefe Besorgnis" Washingtons um die ethnischen Armenier in Bergkarabach. Blinken versicherte laut Washington, dass die Vereinigten Staaten Aserbaidschan drängten, "die Zivilbevölkerung zu schützen" und "die Menschenrechte und Freiheitsgrundrechte der Bewohner von Bergkarabach zu respektieren".
Verwundete auf dem Weg nach Armenien
Derweil sind verwundete Soldaten der Armenier in Bergkarabach mit Krankenwagen nach Armenien gebracht worden. Der Konvoi werde vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) begleitet, teilte das armenische Gesundheitsministerium mit. Die Rede war von 23 Verwundeten. Am Samstag hatte das IKRK beim Transport verwundeter Soldaten aus mehreren Regionen Karabachs in die Hauptstadt Stepanakert geholfen.
Armenien fordert UN-Mission
Im Ringen um die Zukunft der Armenier in Bergkarabach hat Armenien eine UN-Mission für die Region im benachbarten Aserbaidschan gefordert. Die Vereinten Nationen müssten unverzüglich Truppen entsenden, um die "Menschenrechts- und Sicherheitslage vor Ort zu überwachen und zu bewerten", so der armenische Außenminister Ararat Mirsojan bei der UN-Generaldebatte in New York.
Mirsojan warf den Vereinten Nationen Untätigkeit vor. Die "wahrlich verheerenden Entwicklungen" in der Region hätten gezeigt, dass die Probleme "nicht allein durch Stellungnahmen und allgemeine Aufrufe" gelöst werden könnten, sagte Mirsojan.
Die zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan seit langem umkämpfte Kaukasusenklave Bergkarabach gehört zwar völkerrechtlich zum überwiegend muslimischen Aserbaidschan, wird aber mehrheitlich von christlichen Armeniern bewohnt. 1991 hatte sich Bergkarabach nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.
Unmut über Russland
Armeniens Ministerpräsident Paschinjan hat vor dem Hintergrund des Konflikts um Bergkarabach eine außenpolitische Abkehr von Russland angedeutet. Armeniens derzeitige Sicherheitsbündnisse seien "ineffektiv" und "unzureichend" hinsichtlich des Schutzes nationaler Sicherheit und Interessen, sagte Paschinjan in einer Fernsehansprache. Der Regierungschef sprach sich zudem dafür aus, dass Armenien dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beitritt, der einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin erlassen hat.
Armenien ist Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO), eine von Russland dominierte Gruppe von sechs ehemaligen Sowjetstaaten. In den CSTO-Statuten steht, dass der Angriff auf ein Mitgliedsland als ein Angriff auf alle Mitgliedsländer gewertet wird. Armenien hatte in dem Konflikt mit Aserbaidschan um Bergkarabach auf die Unterstützung des Militärbündnisses gehofft.
Russland argumentierte allerdings, die Regierung in Eriwan selbst erkenne Bergkarabach als Teil Aserbaidschans an und weigerte sich, Armenien zu helfen. Paschinjan sprach sich für einen "Umbau" und eine "Ergänzung" der bisherigen "Werkzeuge der armenischen äußeren und inneren Sicherheit" aus und warb dafür, mit all jenen Partnern zusammenzuarbeiten, "die bereits sind für gegenseitig vorteilhafte Schritte". Mit Blick auf den IStGH sagte Paschinjan, die Entscheidung sei "nicht gegen die CSTO und die Russische Föderation" gerichtet. Es gehe vielmehr um Armeniens Sicherheit.