"Tag der Verschwundenen" in Mexiko Vermisst, verschwiegen - aber nicht vergessen
Mehr als 110.000 Menschen gelten in Mexiko als verschwunden. Landesweit erinnern Angehörige an ihr ungewisses Schicksal. Im Bundesstaat Guanajuato nehmen Mütter die Suche in die eigenen Hände.
Carmen steht an ihrem Esstisch, der mit einem bunten Wachstuch bedeckt ist und schneidet kleine Tomatenstücke auf einem Holzbrett zurecht. Knusprige Schweineschwarte, Avocado, Zwiebeln, Koriander und Chili. Sie zählt die Zutaten für einen Guacamaya-Sandwich auf. Wenn ihr Sohn wiederkomme, dann würde sie ihm einen solches Sandwich zubereiten. Das habe er immer so gemocht. "Ich weiß, dass er zurückkommen wird", sagt Carmen.
Während sie das erzählt, rollen der 80-Jährigen die Tränen über das schmale, faltige Gesicht. Am 31. Mai 2018 hat Carmen ihrem Sohn Oscar zum letzten Mal ein Guacamaya-Sandwich zubereitet. Das Rezept dafür ist mit vielen weiteren Teil eines Rezeptbuches, das die Fotografin Zahara Gómez Lucini mit 74 Frauen zusammengestellt hat, um an ihre Söhne und Töchter, an verschwundene Familienangehörige zu erinnern. Gegen das Vergessen.
Auch ein Bild von Carmens Sohn ist darin zu sehen. Dunkle Haare, buschige Augenbrauen. Er lächelt - umringt von seinen vier Kindern. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hat, hätten seine Haare abgestanden, erinnert sich Carmen. Warum solle er sich kämmen, wenn er ohnehin fast eine Glatze habe - das habe er beim Abschied lachend gesagt. Danach habe sie ihn nie wieder gesehen.
Damals war Oscar 41 Jahre alt und hat als Uber-Fahrer gearbeitet. Das örtliche Drogenkartell habe ihn unter Druck gesetzt und am Ende gezwungen in das Geschäft einzusteigen. Carmen habe ihn angefleht, dass er es sein lassen soll. Er hätte sie umarmt. "Da komme ich nicht mehr raus", habe er ihr entgegnet.
Seit mehr als fünf Jahren ist Carmens Sohn Oscar verschwunden. Die Hoffnung auf seine Rückkehr gibt die 80-Jährige aber nicht auf.
Mehr als 110.000 Verschwundene
Seit fünf Jahren fehlt von Oscar jede Spur. In Mexiko gelten mehr als 110.000 Menschen als verschwundenen. Weil sie wohl zwischen die Fronten gerieten, sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren oder sie - oft gegen ihren Willen - vom organisierten Verbrechen rekrutiert wurden. Die Geschichten ähneln sich, viele Familien in Carmens Nachbarschaft sind betroffen.
Carmen selbst sei immer wieder gedroht worden. Sie habe anonyme Anrufe bekommen und Nachrichten, sie solle ihren Sohn nicht suchen. Immer wieder seien Männer aufgetaucht, die sich an der Straßenecke postiert hätten.
Angehörige bilden Suchtrupps
Der Staat unternehme kaum was, kritisiert Carmen. Die Ermittlungen liefen ins Leere. Eine einheitliche landesweite Datenbank für Verschwundene gibt es nach wie vor nicht.
Aber in ihrer Stadt hat sich, wie in so vielen anderen Orten, ein unabhängiger Suchtrupp aus Müttern und Angehörigen gebildet, die in der Umgebung durch die Berge ziehen, um nach den Verschwundenen zu graben. Immer wieder würden Massengräber entdeckt. Sie selbst sei gesundheitlich zu angeschlagen, zu alt, sagt Carmen. Doch die anderen Mütter suchten für sie mit, das wisse sie.
Immer wieder entdecken die Suchtrupps, zu welchen sich Angehörige zusammengeschlossen haben, auch Massengräber.
"Die Gesellschaft schaut weg"
An diesem Tag erhalten die Mütter aus Guanajuato einen anonymen Hinweis. Sie beginnen in einem verlassenen Haus den Boden aufzubrechen. Anfangs bewegen sie sich noch vorsichtig, wollen nicht entdeckt werden, drehen sich immer wieder um. Irgendwann scheint es ihnen egal.
Der Staub wirbelt durch die Luft. Einige tragen einen Mundschutz. Eine junge Frau, die aus Sicherheitsgründen unerkannt bleiben will, holt weit aus und schlägt mit voller Wucht in den Betonboden. Sie sucht nach ihrem Sohn. Erst heute Morgen hat sie über WhatsApp eine traurige Nachricht erhalten: Die Schwester ihrer Schwägerin war seit ein paar Tagen verschwunden. Sie war auf einer Party und ist nicht wiedergekommen. Nun wurde sie in einem Hotel tot aufgefunden.
Jetzt sei sie Teil der Statistik, sagt die Mutter. Morgen könne es einen weiteren treffen. Die Gesellschaft schaue weg.
Mein Sohn war 18 Jahre alt, als er verschwand. Jetzt wäre er 21. Unser Leben endet, wenn unsere Kinder verschwinden. Wir werden lebendig getötet. Wir leben zwar weiter, sind aber innerlich tot.
Obwohl die Suche gefährlich ist, wollen sie weitermachen. Erst vor wenigen Tagen hat die lokale Regierung den Müttern die Begleitung von Sicherheitskräften gestrichen, obwohl in den vergangenen drei Jahren allein in Guanajuato fünf Familienangehörige getötet wurden, die unermüdlich nach ihren Söhnen, Töchtern, Schwestern und Brüdern gesucht hatten.